Erdbeben in Haiti:"Die Menschen sind stark traumatisiert"

Erdbeben in Haiti: In der Stadt Les Cayes ist von der Kirche wenig übrig geblieben. Aus ländlicheren betroffenen Gebieten fehlen noch Informationen.

In der Stadt Les Cayes ist von der Kirche wenig übrig geblieben. Aus ländlicheren betroffenen Gebieten fehlen noch Informationen.

(Foto: Reginal Louissaint Jr./AFP)

Haiti ist erschüttert - wieder einmal. Welche Hilfe brauchen die Menschen vor Ort jetzt? Und wie unterscheidet sich die Situation vom heftigen Beben 2010?

Interview von Elisa Britzelmeier

Mindestens 1297 Menschen sind nach dem starken Erdbeben in Haiti gestorben. Und nun nahen heftige Regenfälle und Sturm. Jelena Kaifenheim, 39, ist Regionalleiterin Lateinamerika und Karibik bei der Hilfsorganisation Malteser International. Sie hat nach dem Erdbeben 2010, als mindestens 200 000 Menschen starben, mehrere Jahre in Haiti gearbeitet. Gerade ist sie von Köln aus mit dem 15-köpfigen Team in Kontakt, das vor Ort zusammen mit haitianischen Partnerorganisationen im Einsatz ist.

SZ: Frau Kaifenheim, was sind die drängendsten Anliegen der Menschen in Haiti?

Jelena Kaifenheim: Wer verletzt ist, braucht natürlich medizinische Versorgung. Viele haben ihr Zuhause verloren und brauchen erst mal Wasser und Essen. Oder Plastikplanen, um sich vor dem Wetter schützen zu können.

Weil auch noch ein Tropensturm droht.

Genau, der Sturm Grace wird wahrscheinlich heftigen Regen mit sich bringen. Die Leute brauchen also zeitnah Unterschlupf. Die meisten Häuser rund um das Epizentrum sind relativ einfach, aus Steinen und Mörtel, also nicht erdbebenresistent. Da ist sehr viel zusammengekracht. Oder Häuser haben Risse, sodass sich niemand mehr hineintraut. Viele schlafen auf der Straße. Dazu kommt: Die Menschen sind stark traumatisiert. Das Erdbeben jetzt war mit der Stärke 7,2 ähnlich wie 2010 mit Stärke 7. Da kommen viele Erinnerungen hoch.

Was hat sich seitdem geändert?

Es wurde massiv in den haitianischen Zivilschutz investiert, das merkt man. In der Organisation hat sich viel getan, die Koordination ist besser. Der Zivilschutz hat etwa Decken und Matratzen verteilt und Fußballfelder als Schlafmöglichkeiten eingerichtet. Aber es reicht bei Weitem nicht aus. Haiti ist weiter auf Hilfen von außen angewiesen.

Wie sieht Ihre Arbeit vor Ort aus?

Wir unterstützen Krankenhäuser mit medizinischem Material und arbeiten mit den lokalen Behörden zusammen, damit Menschen Lebensmittel bekommen. Und wir sind gerade dran, Ausstattung zu beschaffen, mit der der Schutt weggeräumt werden kann. Das sind Erstmaßnahmen, dann wollen wir natürlich beim Wiederaufbau helfen.

Jelena Kaifenheim zur Situation in Haiti

Jelena Kaifenheim ist Regionalleiterin Lateinamerika und Karibik bei der Hilfsorganisation Malteser International und hat 2010 ein "Abstimmungschaos" erlebt.

(Foto: privat)

2010 gab es mindestens 200 000 Todesopfer. Nun geht man von fast 1300 Toten aus. Wie lassen sich die unterschiedlichen Zahlen erklären?

2010 war die Hauptstadt Port-au-Prince massiv betroffen, die die höchste Bevölkerungsdichte hat. Sie ist dieses Mal verschont geblieben. Man muss aber mit weiteren Opfern rechnen, es gibt Vermisste, und gerade in den kleineren, schwer erreichbaren Dörfern fehlen noch Informationen. Betroffen ist größtenteils ein ländliches Gebiet, dort waren die Menschen trotz allem nicht ausreichend vorbereitet. Dennoch werden die Zahlen kaum so hoch liegen wie 2010.

Was hat damals den Wiederaufbau so mühsam gemacht?

Schlechte Koordination. International gab es daran viel Kritik, zu Recht. Es fehlten Standardabläufe für den Umgang mit solchen Krisen. Dazu kam eine Flut an Organisationen nach Haiti. Gerade kleinere, unprofessionelle Organisationen haben teils unabgestimmt irgendwas durchgeführt. Dadurch wurde manches doppelt geplant, andere Orte blieben unterversorgt. Ich war damals vor Ort, es war ein Abstimmungschaos. Es gibt gute Chancen, dass das jetzt anders läuft. Inzwischen sind viele Organisationen seit 2010 da, haben also Kontakte und kennen sich aus.

Death Toll Over 1,200 After 7.2 Quake In Haiti

In Les Cayes werden Verletzte vor dem Krankenhaus notversorgt.

(Foto: Getty Images)

Auf das Erdbeben 2010 folgte ein Cholera-Ausbruch, eingeschleppt wahrscheinlich durch UN-Soldaten. Dann kamen mehrere Hurrikans, eine lange Dürre, Anfang Juli wurde der Präsident ermordet. Warum trifft es immer Haiti?

Haiti ist auf mehreren Ebenen stark gebeutelt. Aber: Historisch war Haiti immer politisches Spielfeld anderer Großmächte und konnte wenig selbst entscheiden. Haiti hat nicht selbst Haiti kaputt gemacht. Die Sicherheitslage ist katastrophal, auch deswegen war es für Haiti schwer, sich zu erholen. Und es ist von seiner geografischen Lage her einfach sehr gefährdet für Naturkatastrophen.

Was ist das größte Problem momentan?

Dass sich die Geldgeber in den letzten Jahren immer weiter zurückgezogen haben. Wir haben inzwischen Probleme, unsere Projekte zu finanzieren. Die Spendenbereitschaft ist total gering. Seit drei Jahren gibt es eine schwere Ernährungskrise hier, die Öffentlichkeit bekommt davon wenig mit. Das darf nicht in Vergessenheit geraten. Das Erdbeben ist nur eine zusätzliche Krise auf einer bereits bestehenden langfristigen Krise.

Bei einer solch prekären Lage, wenn es erst mal ums Essen und Trinken geht - ist dann an psychologische Betreuung überhaupt zu denken?

Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, psychosoziale Hilfe direkt in die Nothilfe zu integrieren. Einfache Dinge können da viel ausrichten. Kleine Gesprächsrunden, damit die Leute sehen, dass sie sich untereinander austauschen können, und lernen, Trauma-Anzeichen wie Angstzustände oder Schlaflosigkeit zu erkennen. Das haben wir auch in der Hochwasserhilfe hier in Deutschland gesehen: Einfache Gespräche, etwa mit der Nachbarin, können sehr viel helfen.

Zur SZ-Startseite

SZ PlusMeinungNaturkatastrophen
:Tödlicher Verzug

Flut, Schuld und Schicksal: Ist die hohe Opferzahl ein Indikator für höhere Gewalt - oder Ergebnis von Versäumnissen bei der Evakuierung? Was die Strafjustiz jetzt prüfen muss.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: