Gruppenvergewaltigung im Ruhrgebiet:Die Mädchen wurden offenbar gezielt ausgesucht

Landgericht Essen

Die Staatsanwaltschaft Essen geht davon aus, dass es die fünf Männer in mindestens sieben Fällen mit dieser Methode versucht haben.

(Foto: Bernd Thissen/dpa)
  • Der Prozess um die Vergewaltigung von Schülerinnen durch eine Gruppe junger Männer im Ruhrgebiet beginnt am Freitag am Essener Landgericht unter Ausschluss der Öffentlichkeit - aus Rücksicht auf die Opfer.
  • Die fünf Angeklagten im Alter von 16 bis 23 Jahren sollen insgesamt sieben Schülerinnen sexuell genötigt haben.
  • Zwei der Angeklagten haben einen Teil der Taten zugegeben und auch andere aus der Gruppe belastet.

Von Arne Hell und Lena Kampf

Angst scheinen sie zunächst nicht gehabt zu haben, als sie spät abends zu den jungen Männern ins Auto gestiegen sind. Meist kannten die Mädchen einen von ihnen. Entweder vom Abhängen am Katernberger Markt in Essen oder über eine Freundin von der Hauptschule. Also stiegen sie ein. Und ahnten nicht, dass sie ausgesucht worden waren.

Es saßen drei oder vier junge Männer im Auto, manchmal auch ein fünfter. In einem grauen Familienauto, einem Mazda. Ein bisschen rumfahren, Musik hören, rumalbern, an der Tankstelle Wodka Energy kaufen. Dann fuhren die Männer in ein Waldstück, häufig im Süden von Essen. Dort wurden den Mädchen, 16 oder 17 Jahre alt, unter einem Vorwand die Handys abgenommen. Danach soll das Drohen und Drängen angefangen haben.

Entweder sie würden mitmachen, bei allen Männern reihum Oralsex. Oder ihr Handy würde im Gebüsch landen. Sie würden ausgesetzt. Sie müssten nach Hause laufen. Sie sollten sich nicht so haben, sei doch nur Sex, hieß es. Dann erhöhten die jungen Männer offenbar der Druck. Sie verriegelten die Türen, drohten Schläge an. Ein Mädchen, das sich erst weigerte, berichtete, dass sie in den Magen geboxt und an den Haaren gezogen wurde. Die Männer drohten ihr, sie würden sie grün und blau schlagen und dann ins Gebüsch werfen. Während der Taten sollen die jungen Männer, sie haben alle deutsche Pässe, auch immer wieder Romani gesprochen haben, damit die Mädchen sie nicht verstehen.

Überrumpelt und eingeschüchtert

Die Frauen müssen überrumpelt gewesen sein. Sie wurden offenbar so eingeschüchtert, dass einige von ihnen nachgaben. Die Männer sollen einzeln zu ihnen auf die Rückbank gekommen sein, sie nacheinander zum Oralsex gezwungen haben, während die anderen draußen rauchten. Danach wurden sie von einem der Männer vergewaltigt, manchmal auch noch von einem zweiten. Dann bekamen sie ihr Handy zurück. Und wurden von den Männern wieder nach Hause gebracht. Sie tue ihm leid, soll einer der Täter auf so einer Rückfahrt zu einem der Mädchen gesagt haben. Schon als sie ins Auto gestiegen sei, habe sie ihm leidgetan.

Die Staatsanwaltschaft Essen geht davon aus, dass es die fünf Männer in mindestens sieben Fällen mit dieser Methode versucht haben. Jetzt sind sie wegen Vergewaltigung, Körperverletzung und Nötigung vor der Jugendkammer des Landgerichts angeklagt. Die Männer sind zwischen 16 und 23 Jahre alt. Vier von ihnen sitzen in Haft. An diesem Freitag beginnt der Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Die Methode der mutmaßlichen Täter erinnert an die Gruppenvergewaltigungen in den britischen Kleinstädten Telford und Rotherham. Dort wurden mehr als 1000 Mädchen und junge Frauen über Jahre von Gangs manipuliert, sexuell ausgebeutet und mit Gewalt zum Schweigen gebracht. "Grooming" nennt sich diese Masche: Die Täter schmeicheln den potenziellen Opfern, machen ihnen Geschenke - und wenn sie das Vertrauen erlangt haben, vergehen sie sich an ihnen. In den britischen Fällen schauten die lokalen Behörden und die Polizei weg, aus Angst vor Rassismusvorwürfen wurden Ermittlungen offenbar sogar verschleppt.

Der Fall aus Nordrhein-Westfalen hat bei Weitem nicht diese Dimension. Doch die jungen Männer aus Essen und Gelsenkirchen schienen sich sehr sicher zu fühlen. Selbst als einer aus der Gruppe schon in Untersuchungshaft saß, sollen sie im Januar noch zwei Taten begangen haben. Sie hatten sich ab November 2017 in Chatgruppen zusammengeschlossen, eine hieß "Scorpions MC". "Scorpion machen" hieß wohl: ein Mädchen vergewaltigen. In der Gruppe tauschten sie Fotos von jungen Frauen aus und beratschlagten offenbar, welche von ihnen infrage kämen. Teilweise stritten die Männer wohl sogar darum, wer diesmal dabei sein durfte. Es gab zu wenige Sitzplätze für alle Interessierten.

Einer der mutmaßlichen Täter scheint bei den Taten der Gruppe eine zentrale Rolle als Lockvogel gespielt zu haben: Dean Martin L., 18, ein Teenieschwarm. Aussagen der Opfer deuten darauf hin, dass er in mehreren Fällen derjenige war, den die Mädchen kannten und dem sie vertrauten. Mit einem der Opfer soll er sogar eine Zeitlang zusammen gewesen sein.

Opfer wurden "besorgt" und benutzt

Einige der jungen Frauen sollen seine Rolle so geschildert haben, dass man den Eindruck haben könnte, Dean Martin L. sei von den anderen Männern gezwungen worden mitzumachen. Aus den Chats der Gruppe geht aber hervor, dass das zumindest in einigen Fällen vorgetäuscht war und zum Plan gehörte.

Nach den Taten prahlten sie voreinander. Einer der Männer schrieb: "Bei mir kommen die Frauen aus mein Auto wieder raus die müssen erstmal Therapie." Sie sollen von ihm aus "von der Brücke springen". Einer schreibt, für ihn seien die Taten eine Art Bestätigung. "Sobald ich wieder zu Hause reinkomme, fühle ich mich wieder, habe ich wieder 100% Power."

Opfer wurden "besorgt" und benutzt

Die jungen Männer sahen die Mädchen als etwas an, was sie benutzen könnten, was sie "klarmachten". Ihre Opfer wurden teilweise von anderen Mädchen "besorgt": Eine 16-Jährige, die selbst als Opfer ausgewählt worden war und im Waldstück bedroht wurde, konnte die eigene Vergewaltigung verhindern, indem sie ein anderes Mädchen "vermittelte". Sie schrieb eine Bekannte aus der Schule an, gegen 22 Uhr abends, sie wolle noch etwas mit ihr unternehmen. Zum Treffen kam sie dann aber mit den vier jungen Männern. Die "Vermittlerin" wurde wieder zu Hause abgesetzt, ihre Mitschülerin aber daraufhin im Auto vergewaltigt.

Ein Opfer aus Gelsenkirchen, das laut Anklage kurz vor Silvester vergewaltigt worden war, ging einen Tag später mit seiner Mutter zur Polizei. Es gab einen ersten Durchsuchungsbeschluss, doch die Adresse des Verdächtigen stimmte nicht. Richtig ins Rollen kamen die Ermittlungen erst knapp drei Wochen später, als eine weitere 16-Jährige aus Essen Anzeige wegen Vergewaltigung erstattete und von einem ähnlichen Vorgehen berichtete. Da erkannten die Ermittler den Zusammenhang.

Über die Chats im Handy des ersten Festgenommenen kamen die Ermittler auf die anderen mutmaßlichen Täter. Am 30. Januar nahm die Polizei dann zwei weitere von ihnen in Untersuchungshaft. Dean Martin L. tauchte zunächst unter, stellte sich aber, als öffentlich nach ihm gefahndet wurde.

Eine Zeugin, die sich nach dem Aufruf der Behörden gemeldet hat, will schon im Sommer 2017 eine Gruppe junger Männer mit einem verängstigt wirkenden Mädchen im Wald gesehen und auch angesprochen haben. Dean Martin L. habe sie als einen der damals Beteiligten auf dem Fahndungsfoto wiedererkannt.

Nach und nach meldeten sich im Februar weitere Opfer bei der Polizei. Die Staatsanwaltschaft sagt, dass die Ermittlungen nicht beendet seien und es weitere Opfer geben könnte.

Zwei der Angeklagten haben einen Teil der Taten zugegeben und auch andere aus der Gruppe belastet. Aus Rücksicht auf die Opfer wird der Fall an der Jugendkammer des Essener Landgerichts verhandelt. Laut Staatsanwaltschaft wird gegen die Volljährigen aus der Gruppe aber nach Erwachsenenstrafrecht verhandelt.

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