Süddeutsche Zeitung

Grubenunglück in der Türkei vor einem Jahr:"Es ist sehr schwer, eine Mutter in Soma zu sein"

  • 301 Grubenarbeiter kamen vor einem Jahr in Soma bei dem schwersten Unglück in der Geschichte des türkischen Bergbaus ums Leben.
  • Der Tod ihrer Männer oder Väter bedeutet für die hinterbliebenen Frauen nicht nur eine emotionale Tragödie, sondern auch eine wirtschaftliche. Sie fühlen sich vom türkischen Staat im Stich gelassen.
  • Überlebende, die nach der Katastrophe mit den Medien gesprochen oder an Demonstrationen teilgenommen haben, sollen ihre Arbeit verloren haben.
  • Die juristische Aufarbeitung des Unglücks geht nur schleppend voran.

Von Deniz Aykanat und Oliver Klasen

Es ist natürlich Zufall, dass der türkische Ort Soma, in dem sich vor genau einem Jahr eines der schlimmsten Grubenunglücke aller Zeiten erreignete, den gleichen Namen hat wie die stimmungsaufhellende Droge aus Aldous Huxleys Roman Brave New World.

301 Grubenarbeiter kamen damals ums Leben. Wegen eines Schichtwechsels hatten sich besonders viele Kumpel unter Tage aufgehalten. Viele erstickten, weil infolge eines Kurzschlusses die Stromversorgung zusammenbrach und die Ventilatoren, die in den Schächten für Frischluft sorgen, nicht mehr arbeiteten.

Und ähnlich wie die Menschen in Huxleys Dystopie mit Soma ruhiggestellt werden und deshalb die permanente Überwachung nicht infragestellen, so versucht auch die türkische Regierung jetzt, zum Jahrestag der Katastrophe, jeden zu beschwichtigen, der die gefährlichen Bedingungen in den Kohlegruben des Landes anspricht.

301 Männer starben bei dem Unglück. Sie hinterließen ihre Frauen, Verwandte, viele Kinder - und viele Mütter. "Es ist sehr schwer, eine Mutter in Soma zu sein" betitelt die der Oppositionspartei CHP nahestehende Zeitung Cumhuriyet einen Artikel anlässlich des Jahrestages. Berichtet wird von einer Podiumsveranstaltung der Türkischen Gesellschaft für Bildung. Die Mütter von Soma, die entweder ihre Söhne verloren oder nun, ohne ihre Ehemänner, alleine für ihre Familien sorgen müssen, sprechen dort über ihr Leben nach dem Unglück: Sie tragen keine bunten Blusen mehr, fühlen sich mutlos und traurig, sind einsam. Eine Mutter erzählt von ihrem dreijährigen Sohn, der nur noch schwarze Bilder malt.

"Märtyrerfamilien", die nicht über die Runden kommen

Andere Mütter und Überlebende berichten, dass sie seit dem Unglück kaum über die Runden kommen. Die Kumpel, die nach dem 13. Mai 2014 ihre Arbeit verloren, bekommen im Juni ihre letzte Rate Arbeitslosengeld ausgezahlt. Wie es danach weitergehen soll, wissen viele nicht. In der Türkei, gerade in ländlicheren Gebieten wie Soma, ist der Mann immer noch der Hauptverdiener. Frauen sind für Haushalt und Kindererziehung zuständig. Der Tod ihrer Männer oder Väter bedeutet für sie nicht nur eine emotionale Tragödie, sondern auch eine wirtschaftliche. Die Frauen fühlen sich vom türkischen Staat im Stich gelassen.

Den "Märtyrerfamilien" zahlt der Staat eine Hinterbliebenenrente - abhängig von der Position des Verstorbenen nach Angaben der Familien umgerechnet 330 bis 660 Euro. Den Überlebenden zahlte die Firma ihr Gehalt nach dem Unglück zunächst weiter. Doch Ende des vergangenen Jahres kündigte sie mehr als 2800 Kumpeln.

"Märtyrerfamilien" ist ein gerne verwendeter Begriff in den türkischen Medien, wenn von den Toten oder ihren Hinterbliebenen gesprochen wird. Das klingt zynisch und unpassend. Waren die Männer doch nicht unter Tage, um für ihre Ideale, ihre Religion oder eine politische Ansicht zu sterben - sondern, um ihre Familien zu ernähren.

Zu der vergleichsweise niedrigen finanziellen Kompensation kommen die Relativierungen des Unglücks durch die Regierung und ihre Weigerung, die Arbeitsbedingungen in der Branche zu verbessern.

Unglücke in türkischen Kohlegruben haben sich in den vergangenen Jahren häufig ereignet. Noch kurz vor dem Unglück von Soma scheiterte der Politiker Özgür Özel von der Oppositionspartei CHP mit einem Versuch, Zwischenfälle in der Grube von Soma untersuchen zu lassen. Erdoğans Regierungspartei AKP, die nicht nur die Politik, sondern auch große Teile der Unternehmen in der Türkei mit Vertrauensleuten besetzt, lehnte den Antrag ab.

Arbeiter hatten ausgesagt, dass die Betreiberfirma an der Arbeitssicherheit gespart habe, um mehr Gewinn zu machen. "Wir haben unter ständigem Druck gearbeitet. Immer schneller musste es gehen. Unsere Mittagspause haben wir dort gemacht, wo wir gearbeitet haben. Unser Essen war rußverschmiert, aber das war denen egal", sagt zum Beispiel Sami Yavuz, ein ehemaliger Arbeiter in Soma, der das Unglück überlebt hat.

"Solche Unfälle passieren ständig"

Unter immer stärker werdender Kritik verabschiedete die Regierung schließlich im September 2014 doch ein Gesetz, das die Arbeitsbedingungen in den Minen verbessern soll. Nun haben die Kumpel zwei statt einen freien Tag pro Woche. Die Arbeitszeit sank von acht auf sechs Stunden. Doch die Organisation Human Rights Watch schreibt dazu in einem Bericht: "Das Problem sind nicht die Gesetze der Türkei, sondern der Mangel an deren Umsetzung."

Der jetzige Präsident und frühere Regierungschef Erdoğan hat nach dem Unglück von Soma drei Tage Staatstrauer angeordnet. Zuvor hatte er teilweise alles andere als mitfühlend reagiert und in einem ähnlichen Fall 2010, bei dem 30 Tote zu beklagen waren, von "Schicksal" gesprochen, an das sich die Leute in den Kohlerevieren der Türkei eben gewöhnt hätten. Proteste gegen die angeblich unsicheren Arbeitsbedingungen in der staatlichen Mine nannte Erdoğan damals eine "Provokation". Die Empörung über diese Worte des Regierungschefs war groß. Auch in Soma spricht er Sätze, die viele wütend machen. "Solche Unfälle passieren ständig", sagt er.

Angst vor Arbeitslosigkeit

Bezeichnend ist daher, dass die Bürger von Soma sich nicht in erster Linie vor dem nächsten tödlichen Grubenunglück fürchten oder etwa den gesundheitlichen Folgen der Arbeit unter Tage - die Lesart des Staates impft ihnen schließlich ständig ein, dass solche Unglücke quasi zum Geschäft dazugehören. Wie die Zeitung Zaman berichtet, ist die größte Angst in Soma die vor der Arbeitslosigkeit. Nur 300 der zuvor 2831 Kumpel sollen nach der Katastrophe von der Betreiberfirma wieder angestellt worden sein. Dem Bericht der Zeitung zufolge trauen sich viele Arbeiter nicht, über die Zustände in Soma zu sprechen.

Es soll Listen geben, auf denen vermerkt ist, wer mit den Medien geredet oder an Demonstrationen teilgenommen hat. Diese Männer sollen keine Arbeit mehr bekommen haben. Ein großer Teil der Grubenarbeiter, die das Unglück überlebten, sollen mittlerweile in Kaffeehäusern oder auf dem Bau arbeiten.

Auch die juristische Aufarbeitung der Katastrophe von Soma geht nur schleppend voran: Seit April müssen sich im westtürkischen Akhisar 45 Angeklagte vor Gericht für den Unfall verantworten, darunter der Vorstandsvorsitzende der Betreiberfirma. Die Anwältin Buket Olcay, die Opferfamilien vertritt, kritisierte, die Regierung habe den Chefanklägern die Erlaubnis verweigert, Verfahren gegen staatliche Mitarbeiter zu eröffnen. Damit werde die Aufklärung des Unfalls massiv behindert.

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