Süddeutsche Zeitung

Sachsen-Anhalt:Antiheld aus der Grotte

Sensation in der Herrmannshöhle: Erstmals in Deutschland bahnt sich Nachwuchs bei den Grottenolmen an. Nur, wie vermarktet man einen blinden, tauben Schwanzlurch?

Von Cornelius Pollmer

Die Ärzte haben den Olmen Ruhe verordnet, und mehr Ruhe als in der Rübeländer Hermannshöhle lässt sich kaum irgendwo finden. Das Kalkmassiv misst bis zu 600 Meter, drinnen hat es ganzjährig etwa acht Grad. Für den Sommer sind sogar die Fledermäuse ausgeflogen, und dem Ressort Redewendungen der Dudenredaktion sei zudem die Erstaunlichkeit mitgeteilt, dass offenbar auch unsteter Tropfen den Stein zu höhlen versteht.

Nicht einmal letschert plätschert es in der Hermannshöhle, bestenfalls suppt es. Was aber maximale Entschleunigung ist, lässt sich erst von den Tropfsteinen lernen. Ihr Wachstum liegt bei sieben Millimetern alle zwanzig Jahre, und es wäre für die sieben hier anwohnenden Grottenolme selbst dann nicht mit bloßem Auge zu erkennen, wenn die traurigen Tiere denn welche hätten.

Haben sie aber nicht. Überhaupt wirkt der Grottenolm als solcher zunächst wie ein einziges Defizit, wie ein kolossaler und kolossal hässlicher Irrtum der Evolution. Und seine Einordnung in die biologische Systematik klingt, als wollte den Grottenolm jemand wegen dieses Unglücks auch noch beleidigen - der Olm gehört zur Ordnung der Schwanzlurche. Selbst damit aber ist der ganze Schaden noch nicht erfasst, denn während andere Tiere einfach wirklich keine Augen haben, hat der Olm zwar welche, doch liegen diese von Geburt funktionsuntüchtig sowie von Körperhaut überwachsen an jenem Ende des bis zu 30 Zentimeter langen Röhrenkörpers, das mit etwas gutem Willen als vorne bezeichnet werden kann.

Womöglich zum Ausgleich hat die Natur dem Olm drei Kiemenbüschel geschenkt, die dieser allerdings - lieber Himmel! - nun auch wieder nicht brauchen kann. Atmet er doch durch eine ebenfalls in ihm verbaute Lunge. Über solche spektakulären Ungereimtheiten wiederum dürften zumindest die vier Beine des Grottenolms froh sein, weil oft erst auf den zweiten Blick auffällt, dass natürlich auch bei ihnen etwas nicht stimmt. Mit je drei Fingern vorne und je zwei Zehen hinten erblicken Grottenolme das Dunkel der Welt, und wenn an dieser Stelle die Fehleranalyse zunächst endet, dann weder aus Vollständigkeit noch Rücksicht, sondern weil die eigentliche Geschichte eine ganz andere ist.

Manche Besucher sind irritiert: "Ist das dieser Nacktmull?"

Die Geschichte ist, dass sich Grottenolme erstmals überhaupt in Deutschland erfolgreich fortpflanzen könnten. Eines der vier Weibchen in der Hermannshöhle in Sachsen-Anhalt ist schwanger, und vor Ort hat man auf den tierärztlichen Rat sofort und umfassend reagiert. Eine ständige Aufsicht wurde an Punkt vier des Highlightpfades durch die obere Schwemmhöhle postiert. Sie soll sicherstellen, dass alle Besucher dem großen Schild Folge leisten, das am Geländer zur Olmengrotte mit den Grottenolmen dafür wirbt, diese nicht auszuleuchten. Eine weitere offene Flanke der Grotte wurde mit einer blick- und lichtdichten Plane geschlossen.

Die Olme sind derzeit also noch seltener zu sehen als sonst. Weil aber die Schwangerschaft ein Ereignis ist, hängen Besucher besonders interessiert an Punkt vier herum. Man sieht wirklich nichts an dieser Stelle, das tiefschwarze Loch schluckt jeden Blick, aber das ist erstaunlicherweise komplett egal, weil es viel mehr die Idee des Olms zu sein scheint, die die Leute fasziniert, als der konkrete Olm an sich.

"Das ist so etwas wie ein Frosch", sagt ein Vater zu seinem Sohn und hätte besser geschwiegen. "Was ist da-has?", fragt eine Tochter ergebnisoffen ihre Mutter. "Ein Grotte-Nolm", sagt darauf die Mutter, das ist nicht richtig, aber immerhin weniger falsch. "Und hier ist die Eule drin?", fragt ein weiteres Mädchen süß wie drei Pfund Zucker ihre Mutter. "Keine Eule. Olme!", korrigiert diese, das Gesicht des Mädchens nimmt umgehend einen Ausdruck nachvollziehbarer Indifferenz ein.

Als "so dotterartig" beschreibt eine Touristin leicht angewidert den präparierten Grottenolm, der an Punkt vier ersatzweise ausgestellt ist. Eine dänische Familie betrachtet diesen, bespricht sich kurz, und beginnt dann kollektiv zu lachen. So geht es immer weiter: "wie ein blinder Maulwurf", "wie bei Opa im Teich", "dieser Nacktmull oder wie das Ding heißt".

Schon jetzt möchte man die armen Olme in den Arm nehmen und trösten, aber da kommt schon der nächste schnaufende Sandalenträger, ein Berliner. Für handgestoppte zwei Sekunden hält er am Präparat, dann sagt er "Grottenolm? Jibt's ja jar nich" - und geht ungerührt weiter.

Eine Art Käseglocke soll den Nachwuchs schützen

Gibt's ja wohl, und darüber freut sich von Berufs wegen besonders Markus Mende, 36, Marketingchef im Tourismusbetrieb Oberharz. Mende hat sich darum gekümmert, dass es den Grottenolm nicht nur auf Postkarten, sondern auch als Plüschtier zu kaufen gibt. "Und wenn es jetzt so spät wirklich noch klappt, wenn wir den ersten in Rübeland geborenen Olm erleben, der dann 100 Jahre hier wohnt, dann wäre das eine Sensation, dann müssten wir auch noch ein Babyolm-Kuscheltier auf den Markt werfen."

Im August wird es den nächsten Kontrolltermin geben, mit Infrarotlicht und einem speziellen Endoskop soll dann nach Eiablagerungen an einem Steinhaufen gesucht werden, den Mende und seine Leute extra in die Grotte eingebracht haben, um die Fortpflanzung zu begünstigen. Eine kleine Delegation des Berliner Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung wird für den Einsatz anreisen und auch die promovierte Biologin Anne Ipsen, unbestritten eine führende Kraft in der Grottenolmforschung des Landes. Mit Mende und Ipsen möchte man Stunden über den Olm sprechen, der einem in seiner konsequenten Weltabgewandtheit mit jedem weiteren Satz immer liebenswerter erscheint.

Der Olm ist ein Antiheld, aber was für einer!

Der Olm ist ein Antiheld, aber was für einer! Anne Ipsen ist auch nach Jahren der Olmforschung noch fasziniert. Es scheine, sagt sie, "total ineffizient, was der Grottenolm tut - und es ist unglaublich effizient, es ist eine Anpassung auf den Punkt". Bis zu zwölf Jahre kann der Olm ohne Nahrung auskommen, sein lächerlicher Stoffwechsel lässt ihn Jahrzehnte alt werden, und während andere Tiere ständig rennen, springen und sich gockelhaft produzieren müssen, bleibt der Olm einfach daheim und stresst sich so wenig wie möglich. Wer weiß, vielleicht meditiert der Olm am Ende der Grotte, man kann das nicht mehr rigoros ausschließen, wenn man lange genug in dieses schwarze Loch starrt: Ollllllllm.

Während Mende den Olm-Nachwuchs aus touristischen Gründen gut gebrauchen könnte, ergänzt Ipsen, dass eine Erhaltungszucht in Deutschland auch deswegen wünschenswert wäre, weil der Grottenolm im Freiland von Starkregen- und Dürreereignissen bedroht wird. Der Klimawandel bedeutet für fast alle Lebewesen eine Herausforderung, für den veränderungsscheuen Olm muss er das nackte Elend sein. Auch deswegen wäre es ein wichtiges Signal, wenn nach dem Schwarzen Schnurfüßer und der Keller-Glanzschnecke endlich auch der Grottenolm einmal zum "Höhlentier des Jahres" bestimmt würde.

Natürlich kommt dieser Grottenolm ausschließlich im dinarischen Karst vor, die beiden wesentlichen künstlichen Haltungen gibt es in einem Höhlenlaboratorium im französischen Moulis und seit bald 90 Jahren eben im Harz. Der Berliner Geologe Walter Biese siedelte einst aus dem heute slowenischen Postojna Olme in die Hermannshöhle um, angeblich zu Forschungszwecken. In den Mitteilungen des Verbandes der deutschen Höhlen- und Karstforscher aber liest man heute noch, ob dieser Biese "für ein speläobiologisches Projekt der richtige Betreuer war, darf gefragt werden". Auch ist nicht mehr zu klären, wie viele Tiere der Geologe damals in den Harz umsiedelte, Biese sprach in seinen Berichten vage von "einer Anzahl".

Gesichert ist, dass in den Fünfzigerjahren ein Rübeländer Ehepaar nach Jugoslawien fuhr, dort Olme kescherte und dreizehn davon lebend in die Hermannshöhle verbrachte. Nach allem, was man hört, fuhren beide gemeinsam hin, aber nur der Mann mit dem Auto wieder in die DDR. Die Gerüchte gehen noch immer dahin, dass die Tiere von der später als "Olm-Oma Ingeburg" (RTL) kurz fernsehbekannten Ehefrau auch deswegen in einer Milchkanne per Zug zurückreisten, weil so das Risiko einer Kontrolle reduziert werden sollte. Einen veritablen Olmen-Streit gab es dennoch, der Vorwurf aus Jugoslawien lautete auf Diebstahl, und möglicherweise waren gleich mehrere Außenministerien in die Beilegung des Streits eingebunden. Aktenkundig ist, dass neben der osteuropäischen Presse auch die FAZ berichtete. Am 14. Juni 1967 titelte sie: "Jugoslawien fahndet nach Grottenolmen".

Zucht mithilfe eines "Grottenolmpuffs"

Die bloße Existenz der Olme im Harz ist also die erste Sensation, die zweite besteht darin, dass von den ursprünglich dreizehn Olmen vier weiblich sind. Schon dem Rübeländer Ehepaar stand der Sinn nach einer Olmenzucht, es richtete deswegen seinerzeit ein fortpflanzungsbegünstigendes "Hochzeitsbecken" ein, das heute von Kennern der Geschichte "Grottenolmpuff" genannt wird, jedoch nur leise. Weil aber, um streng im Bilde zu bleiben, dieses Becken unfruchtbar blieb, wurde ein Zoologe hinzugezogen, der alle dreizehn Tiere als Männchen identifizierte. Erst 2015 wurde aus Sorge um die schwindende Population ein anerkannter französischer Grottenolmexperte nach Rübeland gebeten, der über eine Grottenolmspermatophore nachweisen konnte, dass der Olmensee zur Lustgrotte geworden war.

In der Folge wurden der genannte Steinhaufen eingebracht und Rückzugsorte für die Olme geschaffen. Es gab, das belegen Untersuchungen an den Tieren, heftige Revierkämpfe mit Verbissschäden an Kiemen und Gliedmaßen, möglicherweise war auch in den vergangenen Jahren schon einmal Nachwuchs unterwegs. Zum Drama des Grottenolms gehört, dass er ausschließlich auf Nährstoffeinträge in das ihn beheimatende Sickerwasser angewiesen ist. Der Olm reagiert deswegen auf Bewegung in diesem Wasser, er ist blind, will aber dennoch Jäger sein. So kann es passieren, dass ein großer Olm auch mal einen kleinen Olm frisst, aber das ist, sagte Anne Ipsen, "dann kein Kannibalismus, das ist blöd gelaufen".

Die Natur löst diese gefährliche Nähe auch mal derart, dass Strömung die Jungtiere verdriftet. Markus Mende sagt, in der Hermannshöhle wollen sie nach dem Schlüpfen eine Art Käseglocke über die Jungtiere ausbringen und diese unten mit Naturschwamm abdichten. Er schätzt die Chance, dass im Harz aus einem Olm-Ei ein Olm wird, auf zehn Prozent - und dann erst käme die Glocke für die ersten beiden kritischen Jahre ins Spiel. Anne Ipsen sagt, die Chancen, dass es mit dem Nachwuchs klappen könnte, seien "ganz gut", auch in den wenigen anderen künstlichen Haltungen habe es Jahrzehnte des Probierens gedauert, bis es neue Olme gab. Es gebe übrigens in Südslowenien eine Unterart, über die man sich das nächste Mal gerne unterhalten könne: Der Schwarze Grottenolm, er stünde derzeit noch mehr als sonst im Schatten des Grottenolms, würfe dieser denn welchen.

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Quelle:
SZ vom 18.07.2020/vs
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