Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Ein Laster voller Leichen

  • In der Nacht zum Mittwoch hat die Polizei in Großbritannien nahe London 39 Leichen in einem Lkw-Container gefunden.
  • Der Fahrer des Wagens wurde festgenommen. Inzwischen wurden Medienberichten zufolge auch zwei Wohnungen durchsucht.
  • Der Lastwagen war in Bulgarien gemeldet, war dort aber offenbar schon lange nicht mehr. Die Polizei geht inzwischen davon aus, dass er von Belgien auf einer Fähre nach Purfleet im Osten Englands gefahren ist.

Von Alexander Mühlauer, London

Es war gegen 1.40 Uhr in der Nacht zum Mittwoch, als die Polizei von Essex einen schrecklichen Fund machte. Im Container eines Lastwagens entdeckten die Beamten 39 Leichen. Der Lkw war in einem Industriegebiet in Grays abgestellt worden, gut 40 Kilometer östlich von London. Am Mittwochmorgen teilten die Behörden mit, dass der mutmaßliche Fahrer des Lastwagens, ein 25-jähriger Mann aus Nordirland, wegen Mordverdachts festgenommen worden sei. Die Toten seien allesamt Erwachsene, bis auf einen Jugendlichen. Ihre Nationalität und Herkunft waren zunächst unklar. Die Polizei erhofft sich nach der Obduktion der Leichen nähere Hinweise darauf, ob die Menschen womöglich von Schleppern nach Großbritannien geschleust wurden.

Nach ersten Erkenntnissen der britischen Strafverfolgungsbehörden kam der Container wohl aus Bulgarien. Das bulgarische Außenministerium teilte am Donnerstag mit, der Lastwagen sei 2007 in der bulgarischen Hafenstadt Warna registriert und gehöre einem Unternehmen im Besitz einer Frau aus Irland. Seitdem sei das Fahrzeug aber nicht mehr im Land gewesen. Nach Angaben eines bulgarischen Frachtverbandes ist dies aus Steuergründen nicht unüblich.

Bereits am Samstag hatte der Lastwagen die Grenze nach Großbritannien passiert. Der Container wurde in der walisischen Hafenstadt Holyhead registriert; dort legen vor allem Fähren aus Irland an. Den Ermittlern erschien das schnell als ungewöhnliche Route. Ein Polizeisprecher mutmaßte daher, dass der Lkw-Fahrer womöglich diese Strecke gewählt habe, weil es in den Hafenstädten Calais und Dover strengere Kontrollen gebe.

Am Mittwochnachmittag erklärten die Ermittler jedoch, ihre erste Vermutung, der Container sei womöglich von Irland aus angekommen, sei falsch. Die Polizei von Essex teilte mit, sie gehe nun davon aus, dass er von Zeebrugge in Belgien auf einer Fähre nach Purfleet im Osten Englands gefahren sei. Dort wurde er dann an die - offenbar aus Nordirland gekommene - Sattelzugmaschine gekoppelt.

Bei dem Lkw-Sattelauflieger, in dem die Menschen gefunden wurden, handelte es sich um einen Kühlcontainer

Am Fundort der Leichen im Waterglade Industrial Park nahe der Themse untersuchten Spurensicherer in weißen Schutzanzügen den Container und das Fahrerhaus des Lkw. "Wir sind dabei, die Opfer zu identifizieren, doch ich rechne damit, dass dies ein langwieriger Prozess sein könnte", sagte Hauptkommissar Andrew Mariner von der Polizei in Essex. Er sprach von einem "tragischen Vorfall" und erklärte, dass man alles dafür tun werde, um die Umstände des Todes von 39 Menschen aufzuklären.

Britischen Medienberichten zufolge wurden in der Nacht zum Donnerstag zwei Wohnungen in Nordirland durchsucht - dem Herkunftsland des Lastwagenfahrers. Von einem Zusammenhang mit dem Fall sei stark auszugehen, hieß es. Demnach könnten die Menschen im Laderaum bei bis zu minus 25 Grad erfroren sein, da es sich bei dem großen Lkw-Sattelauflieger um einen Kühlcontainer handelte.

In London wurde die Brexit-Debatte im Unterhaus von der Tragödie überschattet. Für ein paar Minuten debattierten die Abgeordneten einmal nicht über den EU-Austritt ihres Landes. Der Schock über den Leichenfund saß tief. Premierminister Boris Johnson zeigte sich "entsetzt über den tragischen Vorfall in Essex". Er versprach, eng mit der dortigen Polizei zusammenzuarbeiten, um genau herauszufinden, was passiert sei. Die britische Innenministerin Priti Patel erklärte, dass ihre Beamten mit Hochdruck an der Rekonstruktion des Tathergangs arbeiteten. Auch die National Crime Agency (NCA) wurde eingeschaltet; die Strafverfolgungsbehörde ist im Vereinigten Königreich für den Kampf gegen das organisierte Verbrechen zuständig.

Die britische Regierung will die Häfen verstärkt überwachen

Die Umstände des Leichenfundes deuten jedenfalls darauf hin, dass es sich bei den 39 Toten um ins Land geschleuste Menschen handeln könnte. In Großbritannien wurden umgehend Erinnerungen an eine ähnliche Tragödie wach, die sich vor 19 Jahren in der englischen Hafenstadt Dover zugetragen hatte. Damals wurden die Leichen von 58 chinesischen Migranten im Frachtraum eines niederländischen Lastwagens entdeckt. Zwei Menschen überlebten damals. Vergleichbare Fälle mit geringerer Opferzahl hat es seitdem immer wieder gegeben.

Weltweites Aufsehen löste zuletzt ein Leichenfund im Sommer 2015 in Österreich aus. 71 tote Flüchtlinge, darunter vier Kinder, wurden in einem Kühllaster, etwa 50 Kilometer südlich von Wien, auf einer Autobahn entdeckt. Die Obduktion ergab damals, dass die Menschen auf dem Weg von der ungarisch-serbischen Grenze nach Österreich qualvoll erstickten. Die Migranten kamen aus dem Irak, Iran und Afghanistan. Vier Männer, die als Schlepper vor Gericht standen, wurden zu hohen Haftstrafen verurteilt.

Nach der Tragödie von Essex will die britische Regierung nun verstärkt die Häfen des Landes überwachen. Jedes Jahr werden Tausende Menschen illegal nach Großbritannien geschleust, vor allem in Lastwagen oder mit Schiffen und kleinen Booten. Nach Angaben des Innenministeriums ist die Zahl von Migranten, die versuchen, über den Ärmelkanal nach Großbritannien zu gelangen, zuletzt stark gestiegen. Probierten im vergangenen Jahr 539 Menschen, die Meeresenge illegal zu überqueren, waren es von November bis Sommer dieses Jahres schon mehr als 1000. Angeblich werden viele Migranten von Schleppern unter Druck gesetzt, die Überfahrt noch vor dem Brexit anzutreten. Nach dem britischen EU-Austritt, so die Ansage, würden die Kontrollen deutlich verschärft.

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Quelle:
SZ vom 24.10.2019/moge
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