Social-Media-Hysterie:Greta, die Bahn und eine Peinlichkeit erster Klasse

Die Klimaaktivistin fährt am Boden sitzend Zug und löst einen Shitstorm aus. Warum der Deutschen Bahn ein wenig Humor und Social-Media-Gelassenheit guttun würden.

Kommentar von Friederike Zoe Grasshoff

Eine Stelle oder mehrere Stellen bei der Deutschen Bahn wären noch dringend zu besetzen: die des Shitstorm-Managers, der Greta-Großlagen-Beraterin oder des Twitter-Moderators. Personen, die es zu händeln wissen, wenn eine Heils- und Hassfigur in den Zug steigt und ein Foto postet, über das später Tausende Menschen diskutieren werden. Doch leider ist es dafür schon zu spät, einige Hundert Minuten - denn der Shitstorm ist da und der Shitstorm ist groß, zu groß. Nur hat dieser Sturm ausnahmsweise nichts mit einem sich wandelnden Klima zu tun, sondern mit zwei Parteien, zwei Systemen, die symbolisch kaum aufgeladener sein könnten.

Da ist die Bahn, die für deutsche Erwartungshaltung und Enttäuschung steht. Für hohe Preise, eine Internetverbindung, die an 1998 erinnert, und sehr, sehr viele Stunden, die man irgendwo in der Pampa rumstand und sich ärgerte, weil man in einem Land lebt, in dem es oft kalt ist und wo halt erwartet wird, dass man pünktlich kommt. Und dann ist da Thunberg, die vielleicht präsenteste Jugendliche, die es je gab, und die ob des Klimaschocks, den sie der Welt ungefragt verpasst hat, von vielen geachtet, von vielen belächelt und von vielen gehasst wird.

Wenn diese Greta nun in das Dezemberchaos des Staatskonzerns gerät, ist dies absurderweise eine Traum-Konstellation für soziale Medien. Klar, dass die Eskalationsstufe des #gretagate schnell erreicht war, jetzt, da keiner mehr Lust hat, über diese seltsame Klimaveranstaltung in Madrid zu sprechen. Und ebenso klar, dass Medienprofi Thunberg ein Bild postete, das sie auf dem Boden sitzend zeigt - und nicht eines, wie sie ab Göttingen in die erste Klasse wechselte.

Bessere Werbung kann es für die Bahn eigentlich nicht geben: Die Identifikationsfigur des klimabesorgten Jugendlichen setzt sich auf den versifft-piefigen Boden und findet das voll in Ordnung. Der erste gestelzte Bahn-Tweet offenbarte, wie gerne Firmen momentan mit ihrem Gutsein angeben, der Werbesprech lautete, zumindest sinngemäß: Danke Greta, dass es dich und uns und den Ökostrom gibt. Anstatt es dabei zu belassen oder es einfach ganz zu lassen, verfiel der nächste Tweet in peinliche "Noch schöner wäre es gewesen"-Rhetorik, sinngemäß: Du undankbares Kind, wir waren so nett zu dir und du schreibst, dass es bei uns überfüllt ist. P.S.: ziemlich uncool, dass du in der ersten Klasse saßt. Ätsch.

Das mehr oder wenige elegante Ätsch gehört natürlich zu Twitter und all den anderen Sprechblasen wie das Bodenmeditieren zwischen Basel und Göttingen zum deutschen Verkehrswesen - oder die Aufregung über ein Foto zum überpersonalisierten Thunberg-Hype. Die Skandalisierung des Banalen ist aber auch Ausdruck des hohen Drucks, unter dem das permanente Witzigsein und verbale Performen geschieht, des Drucks, ein Mensch in diesem tollen und blöden Internet zu sein, das vor allem zwei Dinge gut kann: hassen und lieben.

Viele Leute müssen oder wollen da jeden Tag durch, auch die Deutsche Bahn muss das. Bei der großen Greta-Fahrt hätte ein wenig Humor und Social-Media-Gelassenheit geholfen, vielleicht dieselbe Gelassenheit, die sie ihren Kunden abverlangt. Die heißen zwar zum Großteil nicht Greta, werden aber in der nächsten Woche wahrscheinlich trotzdem die weihnachtlich-entschleunigende Trias aus Zugausfall, Verspätung und Schienenersatzverkehr erleben dürfen. Selfies dringend erwünscht.

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