Graffiti-Sprayer in Moskau:Sie wollen den Protest

Wenn die Sommernacht über Moskau kommt, werden die Wände plötzlich bunt. Unterwegs mit zwei Graffiti-Malern, die in der Stadt ihre Leuchtzeichen setzen.

Sonja Zekri, Moskau

Der Sommer über Moskau ist ein Spektakel. Im Juni und Juli, wenn die Dunkelheit auf ein paar Stunden schrumpft, türmen sich noch kurz vor Mitternacht Wolkengebirge wie Gletscher auf, lodert es in Rot und Pink, glühender als ein Gemälde William Turners, heißer als alle Nachtclubs der Stadt. Selbst Ende August gibt es noch strahlende pfirsichfarben Abende. Das ist der Sommer über Moskau.

Graffiti-Sprayer in Moskau: Moskau bei Nacht von seiner schönsten Seite.

Moskau bei Nacht von seiner schönsten Seite.

(Foto: Foto: dpa)

Der Sommer in den Straßenschluchten am Boden muss dagegen abfallen. Aber Homer und Eug tun ihr Bestes, dass es auch auf der Erde leuchtet. Homer und Eug sind Graffiti-Maler, zwei von zweihundert, die regelmäßig losziehen, beide zusammen bilden die If-Crew.

Im Alltagsleben einen festen Job

Sie sind 25, haben Jobs im Design und in der Werbung, sie kennen sich seit zehn Jahren und könnten unterschiedlicher kaum sein: Der schweigsame bullige Homer mit dem rasierten Schädel, und der schmale blonde Eug, der immer was zu sagen hat und das auch tut.

Eigentlich heißen sie Alexej und Jewgenij, aber ihre Nachnamen möchten sie nicht in der Zeitung lesen, denn sie wissen, dass Moskau lange Zeit eine ziemlich lässige Haltung zu Graffitis hatte, aber dass sich das gerade ändert, zumindest im Zentrum der Stadt, dort, wo sie in dieser Nacht losziehen.

Treffpunkt ist das Puschkin-Denkmal, an dem die Pärchen praktisch bei jedem Wetter zusammensitzen, ein bisschen trinken oder ein bisschen knutschen. Ein Junge trägt sein Mädchen eine Ehrenrunde um den Dichter herum.

Der Blick auf Moskau durch Sprayer-Augen

Der Winter ist weit. Zeit ist Veränderung von Raum, und wenn die If-Crew durch die Stadt streift, sehen Homer und Eug Veränderungen, die niemand sonst bemerkt. In der Nähe des Zirkus beispielsweise standen früher ganze Viertel mit brüchigem Charme in Klinker oder Neo-Renaissance und warteten auf die Graffiti-Maler.

"Vor sechs, sieben Jahren wussten nicht mal die Milizionäre, was sie mit uns anfangen sollten", erinnert sich Eug grinsend: "Wenn sie uns erwischt haben, haben wir uns blöd gestellt, entschuldigt und gesagt, dass wir die Stadt doch nur schöner machen wollten. Ich war noch keine achtzehn. Sie haben uns jedes Mal laufen lassen."

Sie kennen jeden Ziegelstein und jeden Holzwurm hier, aber inzwischen ist von ihrem alten Revier nur eine Toreinfahrt mit einem Schriftzug von Eug übrig und ein Haus mit einem strahlend weißen Kegel über fünf Etagen. Ringsum wachsen die Neubauten empor, glänzende Büropaläste, Penthouse-Festungen, Kathedralen des Wohlstandes, die rein bleiben sollen.

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Sie wollen den Protest

Deshalb besitzt Moskau mehr Sicherheitsdienste als Nagelstudios und mehr Kameras als Ampeln. Und deshalb ist es riskant geworden, nachts zwischen dem Planetarium und dem Kursker Bahnhof zu malen, nicht so riskant wie der Versuch, einen ganzen Metro-Zug vollzusprühen, was immer noch als das Gefährlichste und Ehrenvollste gilt, aber jedenfalls riskanter ist als tagsüber eine Wand in einem der Schlafbezirke aufzuhübschen.

Dumpfe Tristesse in farblosen Plattenbauten

Eigentlich nämlich sehnt sich Moskau nach Farbe, gerade an seinen Rändern, wo die Plattenbauten sich Riegel um Riegel ins Umland schieben, was in der Dunkelheit und von oben betrachtet pulsiert wie ein Diamant, aber mit dem ersten Tageslicht seine niederschmetternde Eintönigkeit enthüllt.

Für die Initiative "Male Moskau" wurden deshalb in Lesino-Ostrowskij im Nordosten ein paar Wände freigegeben. Meterhoch ragen darauf jetzt Pinguine, Bulldoggen und Liechtenstein-artig getüpfelte Frauenköpfe auf. Ein knallbuntes Stück Globalisierung.

Homer und Eug halten das staatlich erlaubte Sprayen allerdings für Mädchensache, und die Nähe zu Kommerz und Design für Verrat. "Wir wollten den Protest.

Wir haben die ersten Jahre unserer Kindheit noch in der Sowjetunion verlebt", erzählt Eug: "Dann kam die Perestroika, alle waren mit dem eigenen Überleben beschäftigt, alles war uniform."

Im besinnungslosen Treiben der Neunziger war jeder Schriftzug, jeder "Tag", ein Dokument der Selbstvergewisserung: Ich bin hier! Und hier! Und hier! "Manchmal schafften wir 40 Zeichnungen in einem Winter", sagt Eug. Dann verschwindet er kurz in einem Geschäft namens "Aroma-Welt" und holt noch ein Bier. Nebenan nehmen Polizisten zwei Betrunkene fest. Sie gehen widerstandslos mit, ein stilles, fast gewaltfreies Ritual, auch dies Teil einer Sommernacht.

Drahtige Mädchen im Gorki-Park

Homer und Eug sind an den Patriarchenteichen angekommen, der Stätte einer legendären Enthauptung. Michail Bulgakow hat in seinem Roman "Der Meister und Margarita" einen Literaturkritiker von einer Straßenbahn köpfen lassen.

Und obwohl die Patriarchenteiche heute nur ein eckiger Tümpel mit Bänken drumrum sind, gerahmt von der Manolo-Blahnik-Filiale und sehr teuren Dessousläden, ist etwas vom Zauber jenes anderen heißen Abends übrig geblieben, als die Aprikosenlimonade viel zu süß schmeckte und plötzlich der Teufel auftauchte.

Homer und Eug sehen den neuen Glanz sowieso skeptisch: "Die schönen Kleider, die großen Autos, das viele Geld - das ist heute das typische Moskauer Leben. Ohne Kultur, ohne Geist", sagt Eug verächtlich. Und Graffiti ist geistreicher? - "Jedenfalls haben wir mehr Phantasie."

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Sie wollen den Protest

Endlich hat Homer ein passendes Plätzchen gefunden, einen seltenen kamerafreien Hinterhof. Ein Wandrest mit einem dicken kleinen König von Eug hat den Abrisswahn überlebt, eine fliegende Waschmaschine ist zu sehen, ein brennender Turnschuh, ein bärtiger Heiliger. Homer grundiert mit Silber und rahmt mit Rot, es sind feiste Buchstaben, die "Throw up" bedeuten oder so ähnlich.

Der Westen ist immer da in dieser Stadt, die sich so abweisend und selbstgenügsam gibt und doch allem Fremden so furchtlos in die Arme wirft. In Sommernächten wie dieser kann man das besonders schön sehen, wenn nicht nur die beiden ihre Runden ziehen, sondern unter einer Brücke am Gorki-Park drahtige Mädchen mit wasserhellen Augen brasilianischen Capoeira tanzen, als wäre der Asphalt unter ihren nackten Füßen der Strand der Copacabana.

Buntes Treiben in der Moskauer Nacht

Oder wenn französische, amerikanische, georgische Restaurants morgens um drei noch voll sind - ohne Rücksicht auf die Lage. Moskauer sind so lärmunempfindlich wie Italiener und imstande, in einem Café an einer zwölfspurigen Magistrale zu Popmusik aus mindestens hüfthohen Lautsprechern nicht nur zu telefonieren, sondern sogar zu entspannen.

Und man sieht es auch, wenn Homer und Eug, die If-Crew, unter Solidaritätsplakaten für Südossetien dahinflanieren und über die Einkreisungspolitik Amerikas nörgeln ("Wir hatten keine Wahl, wir mussten Südossetien anerkennen"), und plötzlich zwischen Häuserschluchten auf einem Basketballfeld landen, meterhoch eingezäunt, leuchtende Graffiti in der Nacht.

Nirgends in der ganzen Stadt ist Moskau Brooklyn so nah wie hier. Wo sie am liebsten mal eine Wand bemalen würden? Die beiden zögern keinen Augenblick: "New York."

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