Kriminalität:Wo selbst in Schweden Integration nicht funktioniert

Kriminalität: Das kaputte Fenster des Appartementblockes in Biskopsgården, Göteborg: In dem Haus wohnte der von einer Granate getötete achtjährige Junge.

Das kaputte Fenster des Appartementblockes in Biskopsgården, Göteborg: In dem Haus wohnte der von einer Granate getötete achtjährige Junge.

(Foto: Bjorn Larsson Rosvall/AP)

Skandinavien, Ort des Friedens und der Glückseligkeit? Die Tötung eines achtjährigen Jungen durch eine Granate in Göteborg zeigt: Das ist nur die halbe Wahrheit.

Von Silke Bigalke, Stockholm

Sommerferien in Schweden, der Junge war nur zu Besuch in Göteborg. Er schlief bei Verwandten im Wohnzimmer, Erdgeschoss, als jemand eine Granate durchs Fenster warf. Die Explosion verletzte den Achtjährigen schwer, er starb auf dem Weg ins Krankenhaus.

Der Junge kam aus Birmingham, die britische Presse sprach mit Verwandten, veröffentlichte am Dienstag Bilder. Sie zeigen ein fröhliches Kind mit dunkler Hautfarbe, sanften Augen, einem großen Lachen. Er habe sich das Wohnzimmer mit seiner Schwester, dem jüngsten Bruder und der Mutter geteilt, zitiert die Birmingham Mail ein Familienmitglied. Es hätte noch schlimmer kommen können, sagt ein Polizeisprecher. In der Wohnung in der Dimvädersgatan im Stadtteil Biskopsgården hätten sich fünf Kinder und mehrere Erwachsene aufgehalten, als die Granate explodierte.

Wer in Schweden Urlaub macht, rechnet nicht mit Angriffen. Schweden gilt als sicher, die Kriminalitätsrate ist niedrig, das Auswärtige Amt warnt höchstens vor Taschendieben. Umso größer ist die Aufmerksamkeit, wenn im friedlichen Schweden Autos brennen, Mitglieder krimineller Banden aufeinander schießen und mit Granaten werfen. Das liegt auch daran, dass es immer wieder dieselben Orte sind, an denen so etwas passiert: Den Stockholmer Vorort Husby beispielsweise kennt man, seit dort im Sommer 2013 Autos brannten und Steine flogen, die Bilder gingen um die Welt. Rosengård in Malmö hat seit Jahren den Ruf eines Ghettos, vergangenen Sommer gab es eine Anschlagsserie mit Handgranaten in der Stadt. In Göteborg ist es Biskopsgården, wo nun der achtjährige Junge durch eine Granate starb.

In den Vororten werden die aufbewahrt, die nicht in die Gesellschaft passen

Die Polizei vermutet, dass der Junge Opfer einer Fehde zwischen zwei kriminellen Banden wurde. Sie sucht nach Verbindungen zu einem Doppelmord im März 2015: Damals schauten die Gäste des Restaurant Vår Krog & Bar in Biskopsgården gerade ein Fußballspiel, als maskierte Männer hineinstürmten und um sich schossen. Zwei Menschen starben, mehrere wurden verletzt. Anfang August verurteilte ein Gericht acht junge Männer wegen Mordes und Komplizenschaft, zwei zu lebenslanger Haft. Einer dieser beiden war in dem Haus in Biskopsgården gemeldet, in dem nun der Achtjährige aus Birmingham starb. Dessen Familie sei nicht mit dem Verurteilten verwandt gewesen, so die Polizei.

"Bitte wenden Sie sich an uns, bevor diese Spirale völlig außer Kontrolle gerät"

Das schwedische Radio sprach nach dem Tod des Jungen mit dem Göteborger Experten für Bandenbildung Torbjörn Forkby. In dem Interview ging es um die Perspektivlosigkeit der Jugendlichen, um die Chancen, die kriminelle Banden ihnen böten, das Geld, das sich mit Drogenhandel verdienen ließe. Der Experte sprach von dem Respekt, den sich diese Banden durch ihre Gewalttaten erhalten wollten, und den sie für ihr kriminelles Geschäft bräuchten. In Göteborg streiten rivalisierende Gruppen offenbar um die Kontrolle des Drogenhandelns. Nicht zum ersten Mal ist der Fehde ein Unbeteiligter zum Opfer gefallen: Im Sommer 2015 starben vier Menschen, als ein Auto explodierte. Unter den Toten war nicht nur ein prominentes Bandenmitglied, sondern auch ein vierjähriges Mädchen. Ein Polizeisprecher bat die Öffentlichkeit nun um Hinweise: "Bitte wenden Sie sich an uns, bevor diese Spirale völlig außer Kontrolle gerät." Zwischen Anfang 2010 und Mitte 2015 sind in Stockholm, Göteborg und Malmö 45 Menschen erschossen worden, vier mal so viele wie in den Hauptstädten der Nachbarländer, in Kopenhagen, Oslo und Helsinki, berichtete das Schwedische Radio im November. Sven Granath, Kriminologe beim Nationalen Rat für Verbrechensvorbeugung, erklärte, dass Gewalttaten in Schweden häufiger mit Drogen- und Bandenkriminalität verbunden seien. Schwedische Städte hätten zudem stärker mit Segregation zu kämpfen.

Biskopsgården, Husby, Rosengård sind Beispiele dafür, wo Integration in Schweden nicht funktioniert. Es sind frühere Arbeiterviertel, einst Heimat für Arbeitsmigranten, heute Abstellgleise für Ausländer, die kaum Chancen auf einen Job haben. In einigen Orten liegt der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund bei mehr als 80 Prozent, die Arbeitslosigkeit ist dort oft doppelt so hoch wie im Rest des Landes. "Die Vororte, die Mutter Svea vergaß" heißt eine Studie über 38 dieser Stadtviertel aus dem Jahr 2015. Der Autor beschreibt sie als eine Art "Aufbewahrung" für alle, "die nicht in die normale Gesellschaft passen". Sie lebten beengt in Häuserblocks, die dringend renoviert werden müssten. Die Kinder, die dort aufwachsen, treffen in den Schulen der Vororte kaum schwedische Mitschüler und erreichen seltener einen Abschluss, der ihnen zu einem guten Job verhelfen würde.

Häufig sind es die Jugendlichen, die ihrem Ärger Luft machen, wie bei den Krawallen in Husby 2013. Auch in diesem Sommer brannten in Schweden wieder viele Autos, mehr als 2000 waren es seit Jahresanfang. Innen- und Justizminister versprachen nun gemeinsam härtere Strafen und schnellere Urteile für Brandstifter. Besonders schlimm war es wieder einmal in Malmö. Dort steht vor allem der Stadtteil Rosengård, Ausländeranteil 86 Prozent, seit Jahren im Fokus, dort kommt es immer wieder zu Schießereien und Anschlägen. Experten warnen vor Radikalisierung. Als Weihnachten 2014 eine Bombe in einer Wohnung in Rosengård explodierte, hatten viele Bewohner die Gewalt so satt, dass sie dagegen auf die Straße gingen. Seither kämpft das Viertel um einen besseren Ruf, mit sozialen Projekten und mehr Austausch zwischen Bewohnern und Stadt. Doch die Gewalt holt sie immer wieder ein: Im April wurde ein 23-Jähriger aus Rosengård in Brüssel festgenommen. Er wird verdächtigt, eine Rolle bei den Anschlägen im November 2015 in Paris und im März 2016 in Brüssel gespielt zu haben.

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