Süddeutsche Zeitung

Gewalt:Heiligabend, Linie U8

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Sie zündeten einem Obdachlosen in der Berliner U-Bahn die Kleider an. Nun haben sich die Tatverdächtigen gestellt. Was bleibt, ist ein Gefühl der Angst vor immer mehr Gewalt im öffentlichen Raum. Ist es auch berechtigt?

Von Christoph Dorner, Berlin

Der Mann schläft mit allem, was er besitzt, auf einer der grün angestrichenen, kalten Sitzbänke aus Edelstahl, als es passiert. Weil die Nächte gerade hier, an der Grenze zwischen Kreuzberg und Neukölln, meist etwas länger dauern, ist es im Grunde immer noch Heiligabend, als sich gegen zwei Uhr morgens sieben Heranwachsende dem schlafenden Obdachlosen am U-Bahnhof Schönleinstraße nähern.

Sie könnten ihn schlafen lassen, wie die meisten Berliner es tun, die in weitgehend gleichgültiger bis offen hilfsbereiter Koexistenz mit den Tausenden Wohnungslosen der Stadt leben. Mit Menschen, die in den U-Bahnen Obdachlosenzeitungen wie den Straßenfeger verkaufen, nach ein paar Cent fragen und auch dann "Schönen Tag noch" nuscheln, wenn sie nichts bekommen. Die, die sich nachts auch im Dezember auf den Zwischendecks der U-Bahnhöfe auf Pappkartons in ihren Schlafsäcken betten. Doch in Ruhe lassen wollen die jungen Männer den Obdachlosen nicht.

Die Überwachungskamera liefert scharfe Bilder, sofort läuft die öffentliche Fahndung an

Sie zünden die Kleidung und Papier an, mit dem sich der alkoholisierte Mann zugedeckt hat. Es ist herbeieilenden Passanten zu verdanken, dass der 37-Jährige in der Weihnachtsnacht mit dem Schrecken davonkommt. Die Menschen können die Flammen notdürftig löschen, ein U-Bahnfahrer kommt mit dem Feuerlöscher dazu. Zurück bleibt eine angekokelte grüne Sitzbank. Die sieben mutmaßlichen Angreifer aber entkommen zunächst mit einem Zug der Linie U 8.

Sie werden allerdings am Bahnhof und in der U-Bahn von Kameras der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) gefilmt. Nach einem öffentlichen Fahndungsaufruf am Montagnachmittag samt Fotos und einem Video stellen sich sechs der Tatverdächtigen noch bis zum Abend bei der Polizei, der Haupttatverdächtige wird in der Nacht von Zielfahndern im Stadtteil Hohenschönhausen festgenommen. Die Berliner Polizei macht die gute Qualität der Bilder für den schnellen Ermittlungserfolg verantwortlich. Und auch diese Nachricht macht schnell die Runde: Die 15 bis 21 Jahre alten Männer sind Flüchtlinge aus Syrien und Libyen, nach Angaben von Polizei uns Staatsanwaltschaft sind sie zwischen 2014 und 2016 nach Deutschland eingereist. Einige hätten einen Aufenthaltsstatus, andere befänden sich in Asylverfahren, schreibt bild.de unter Berufung auf Ermittlungskreise. Manche von ihnen sollen bereits polizeilich aufgefallen sein. Gegen sie wird nun wegen versuchten Mordes ermittelt.

Der Fall Schönleinstraße berührt neben den großen Konfliktlinien der Flüchtlings- und Inneren Sicherheitspolitik auch noch weitere Probleme im sozialen Gefüge der Hauptstadt: Er handelt von der Herabwürdigung von Obdachlosen, von Affekt-Taten junger Männer und der aufkeimenden Angst der Bevölkerung vor immer mehr Gewalt im öffentlichen Raum.

Eine "Tatort"-Folge aus Berlin hatte sich des Themas bereits 2013 angenommen und dabei auch die Ausweitung der Videoüberwachung diskutiert. In dem Film hatten zwei deutsche Jugendliche einen Familienvater totgeprügelt, der sich ihnen in den Weg gestellt hatte, um einen gehbehinderten Mann zu beschützen. Gedreht wurde der "Tatort": an der Schönleinstraße. Die Bahnstation steht nicht so sehr im öffentlichen Blickfeld wie etwa das Kottbusser Tor oder der Hermannplatz. Doch was heißt das schon?

Dass die Filmemacher seinerzeit eine Station der U 8 als Handlungsort ausgewählt hatten, ist durchaus naheliegend, gilt die Linie doch seit Jahren als die gefährlichste der Hauptstadt. In einer Statistik des Berliner Senats aus dem Jahr 2015 wurden hier 4115 Straftaten gezählt, drei der fünf "gefährlichsten" U-Bahnhöfe liegen auf dieser Linie. Nach Angaben der Berliner Polizei ist die Zahl der Straftaten in der U-Bahn von 2013 bis 2015 insgesamt um zehn Prozent gestiegen, es gab vor allem mehr Taschendiebstähle.

Erst vor Kurzem wurde eine Frau die Treppe hinuntergetreten - ist Berlin wirklich so brutal?

Erst in der Vorweihnachtszeit hatte ein Video international Empörung ausgelöst. Im Oktober hatte am U-Bahnhof Hermannstraße ein 27-jähriger Bulgare einer 26-jährigen Frau brutal in den Rücken getreten. Die Frau stürzte über mehrere Stufen aufs Gesicht und brach sich den Arm. Sie musste im Krankenhaus behandelt werden. Der Täter war erst nach der Veröffentlichung des Überwachungsvideos gefasst worden. Die Berliner Polizei war anschließend kritisiert worden, weil sie erst nach zwei Monaten die öffentliche Fahndung eingeleitet hatte. Der mutmaßliche Täter sitzt in Untersuchungshaft.

"Solche Gewaltvorfälle häufen sich nicht", sagt Petra Reetz, Sprecherin der Berliner Verkehrsbetriebe. Die Zahl der Gewalttaten in der Berliner U-Bahn ist laut einer Statistik der BVG zwischen 2011 und 2015 fast um die Hälfte zurückgegangen - im Unterschied zur Polizei werden hier nur körperliche Delikte gezählt. Dies sei auch auf die Videoüberwachung zurückzuführen, so Reetz. Die BVG öffnet in jedem Winter eigens U-Bahnhöfe für Obdachlose. Die Kältehilfe bietet rund 700 Schlafplätze an. Nach Schätzungen leben bis zu 10 000 Menschen in Berlin auf der Straße. Sie sind nicht nur der Kälte, sondern auch Gewalt besonders ausgesetzt.

In Köln war im November nahe dem Hauptbahnhof ein Obdachloser angezündet worden. Für den 29-jährigen Berliner kam jede Hilfe zu spät. Ein Mann gestand die Tat. Auch er lebte auf der Straße.

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Quelle:
SZ vom 28.12.2016
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