Geschichte einer Rettung:Der Schutzengel vom Spielplatz

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Sie ist ein Vorbild an Zivilcourage, alle möchten mit der Rentnerin sprechen, die ein siebenjähriges Mädchen vor einer Gewalttat bewahrte. Doch die Frau will keine Aufmerksamkeit. Sie habe schließlich aus Intuition gehandelt.

Thorsten Schmitz, Duisburg

Es ist früh am Mittag, als Marion P. und ihre Tochter Sara die Fahrräder an einem Holzzaun in der Gustavsburger Straße in Duisburg abschließen. Der Zaun verläuft um einen kleinen Spielplatz herum. Seit zwei Wochen hat hier kein Kind mehr gespielt. Die Familie kommt gerade vom Einkaufen. Sara ist sieben Jahre alt, die Mutter 38. Bis vor zwei Wochen ist Sara auch alleine zum Edeka gegenüber gegangen, Brötchen holen oder Nutella.

Der Spielplatz in der Gustavsburger Straße in Duisburg. Hier wurde Sara gerettet. (Foto: N/A)

Bis vor zwei Wochen ist Sara auch auf den Spielplatz an der Gustavsburger Straße gegangen. Sie hat hier Rad geschlagen im Sand, ist gerutscht, hat Versteck gespielt in den Büschen. Aber Sara fürchtet sich jetzt davor, allein zu sein. Und sie fürchtet sich vor diesem Spielplatz. Die Mutter schickt Sara in die Wohnung. Sie möchte nicht, dass ihre Tochter beim Interview dabei ist. Das würde Sara "zu sehr aufregen". Marion P. überlegt einen Moment, wo man sich unterhalten könne, dann zeigt sie auf eine der Bänke auf dem Spielplatz. Es ist das erste Mal seit jenem Freitag vor zwei Wochen, dass sie den Spielplatz wieder betritt.

Es ist auch das erste Mal, dass die Mutter jetzt redet. Sie war zu Bekannten geflohen, vor den Journalisten, die an ihrer Tür klingelten und wissen wollten, was passiert war. Sie sagt, Sara sei bis vor zwei Wochen noch ein selbständiges Mädchen gewesen. Jetzt verlasse sie das Haus nur an der Seite ihrer Mutter oder mit einem ihrer zwei Brüder. Wenn sie am Spielplatz vorbeilaufe, versuche Sara, den Blick abzuwenden. Sie hat Angst vor "dem Mann", erzählt die Mutter. Nachts wache sie in Schweiß gebadet auf und schreie und renne dann zur Mutter ins Bett. Ihre Mutter versucht sie zu trösten: "Sara, der Mann sitzt im Gefängnis."

Was war passiert an diesem Freitag, den 8. Juli? Vielleicht muss man damit beginnen, dass Elisabeth S. vom Friseur kam, sie hat sich eine Dauerwelle legen lassen. Sie ist 85 jahre alt. Es ist früh am Nachmittag, sie läuft am Spielplatz vorbei und sieht Sara im Gespräch mit einem jungen Mann. Frau S. kennt Sara, den Mann hat sie noch nie gesehen. Der Mann gibt Sara Geld, ein Zwei-Euro-Stück. Frau S. und Sara wohnen im selben Haus. Vom Flurfenster im ersten Stock wirft Frau S. noch einen Blick auf den Spielplatz. Sie sieht, wie der Mann Sara an beiden Händen zu sich zieht, in Richtung Büsche. Frau S. fasst einen Entschluss, der Sara, wie die Polizei später vermutet, vor Schlimmerem bewahrt.

"Dass ich Sara geholfen habe, war Intuition"

Knapp zwei Wochen später sitzt Elisabeth S. in ihrem Wohnzimmer, eine Wanduhr tickt, auf dem Tisch liegt ein Roman von Eduard von Keyserling, eine Liebesgeschichte, die an der Ostsee spielt. Frau S. braucht jetzt etwas Leichtes, das bringt sie auf andere Gedanken. Ihr rechter Arm ist geschient und bis zur Schulter in Verband gewickelt. Die Hand ist gebrochen. Der linke Arm ist übersät mit blauen Flecken und Prellungen, im Gesicht waren bis vor ein paar Tagen noch Schürfwunden zu sehen.

Sie erträgt es nicht, dass Polizisten, Ärzte und Krankenschwestern ihr sagen, sie sei ein Vorbild an Zivilcourage. "Dass ich Sara geholfen habe, war Intuition. Es ist ja in den letzten Jahren soviel passiert in dieser Richtung." Alle möchten jetzt Elisabeth S. sprechen und sie sehen, diese 85-jährige Frau, die keine Furcht kennt. Aber sie hat allen ausrichten lassen, dass sie nicht reden wolle. Nur beim Innenminister von Nordrhein-Westfalen hat sie eine Ausnahme gemacht, ihrem Sohn zuliebe. Er hatte gesagt: "Mama, den Innenminister, den musst Du empfangen." Auch zu diesem Gespräch musste sie sich überreden lassen. Die einzige Bedingung: Kein Foto von ihr.

An jenem Nachmittag vor zwei Wochen dachte Frau S.: "Wenn Sara jetzt etwas passiert, mache ich mir mein ganzes Leben lang Vorwürfe." Sie lief also hinunter zum Spielplatz und sah, wie der Mann, ein 27-Jähriger aus Somalia, Sara hinter die Büsche lockte. Frau S. rief: "Sara, komm mal her!" Der Mann war überrascht, vielleicht deshalb konnte sich Sara aus seinem Griff lösen und auf Frau S. zurennen. Der Mann folgte ihr.

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Er war wütend und wollte Frau S. das Schlüsseletui entreißen, das er für ein Portemonnaie hielt. Er schlug ihr ins Gesicht. "Das war ein ziemlich heftiger Schlag", erzählt sie. Dann verdrehte er ihr den Arm so sehr, dass es knackste und ihr Handgelenk brach. Frau S. sitzt im Wohnzimmer, es ist ganz still. "Mich hat erst niemand gehört, durch die Doppelglasfenster hört man ja heutzutage nichts. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich um Hilfe gerufen habe."

Saras Mutter hörte die Schreie der Nachbarin durch die Gegensprechanlage. Sara hatte Sturm geklingelt, geweint und gerufen, ein Mann habe sie angesprochen. Die Mutter sagt: "So schnell bin ich noch nie vom fünften Stock nach unten gerannt." Seit diesem Tag hat sie Sara jeden Tag zur Schule begleitet und abgeholt. Sara wollte keinen Moment alleine bleiben.

Die Mutter sagt, in Gesprächen mit einer Kindertherapeutin "kommt langsam raus, was Sara erlebt hat". Der Mann habe Sara nach ihrem Namen gefragt und wie alt sie sei und sie dann zu sich gerufen. Er habe Sara auch gebeten, sich nach vorne zu beugen. Die Mutter mag sich nicht ausdenken, was passiert wäre, wenn Frau S. nicht geistesgegenwärtig gehandelt hätte. Am Tag danach brachte Sara Frau S. Blumen ins Krankenhaus. "Ich habe größte Hochachtung vor dieser Frau!" sagt die Mutter.

Frau S. ist sehr schmal gebaut und groß, sie trägt ein gelbes Polohemd, darüber eine dunkelblaue Strickweste. Sie wundert sich selbst, dass sie durch die Wucht des Angriffs nicht zu Boden gestürzt ist. Über ihren eigenen Mut wundert sie sich nicht: "Ich bin zwar ein schüchterner und bescheidener Mensch, aber wenn etwas Ungerechtes passiert, kann ich mich schon durchsetzen." Was sie eher wundert, ist das Gewese der Menschen um diese Rettung. Lob, sagt Elisabeth S., will sie nicht hören, "das muss eine Selbstverständlichkeit sein, einzugreifen, wenn man Gefahr sieht."

Die Mutter von Sara will jetzt eine neue Wohnung suchen. An einem neuen Ort könnte Sara schneller wieder in ihren Alltag zurückfinden. Auch die Mutter will das Haus verlassen. Bis heute habe nicht ein Nachbar mal gefragt, wie es Sara geht. "So sind die Leute eben", sagt Marion P. und verabschiedet sich.

Frau S. wartet auf ihren Enkel. Er soll sie zum Optiker begleiten. Auch sie geht im Moment ungern allein aus dem Haus. Sie hat sich schon überlegt, wie das wohl wäre, wenn sie dem Mann wieder begegnen würde. Sie weiß nicht, wie sie reagieren würde. Was sie weiß, ist: "Natürlich würde ich das wieder machen."

© SZ vom 23.07.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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