Germanwings Flug 4U9525:Dimensionen einer Tragödie

  • Der Kapitän der Maschine von Flug 4U9525 war zum Zeitpunkt des Unglücks aus dem Cockpit ausgesperrt.
  • Copilot Andreas L. brachte die Maschine absichtlich zum Absturz. Er riss 149 Menschen mit in den Tod.
  • Die Angehörigen der Flugzeuginsassen trafen am Nachmittag in der Unglücksregion in den französischen Alpen ein.
  • Lufthansa-Chef Carsten Spohr zeigte sich bestürzt ob des "furchtbarsten Ereignisses in unserer Unternehmensgeschichte". Kanzlerin Merkel sprach von einer "schier unfassbaren" Dimension der Tragödie.

Von Jana Stegemann, Felicitas Kock, Paul Munzinger und Lena Jakat

Warum ist die Germanwings-Maschine abgestürzt? Was hatte es mit dem minutenlangen Sinkflug auf sich? Und warum griff keiner der beiden Piloten ein, bevor die Maschine in den französischen Alpen zerschellte? Diese Fragen trieben Luftfahrtexperten seit dem Flugzeugabsturz am Dienstag um - bis an diesem Donnerstagmittag in Marseille Staatsanwalt Brice Robin ans Mikrofon tritt. Der Stimmenrekorder sei ausgewertet worden, sagt Robin. Und spricht aus, was er selbst erkennbar noch nicht fassen kann: "Der Copilot hat das Flugzeug vorsätzlich zum Absturz gebracht."

Der Ablauf

Der geborgene Stimmenrekorder gibt die letzten 30 Minuten des Fluges wieder. "In den ersten 20 Minuten hört sich alles sehr normal an. Die Piloten sprechen miteinander, ganz normal und nett, höflich, wie auf jedem anderen Flug", erklärt Robin. Dann habe der Kapitän das Briefing für die Landung in Düsseldorf durchgeführt und dem Copiloten das Kommando übergeben. "Man hört einen Sitz, der zurückgeschoben wird, und eine Tür, die schließt." Sobald das Flugzeug sich auf Reiseflughöhe befindet, darf nach europäischen Richtlinien ein Pilot das Cockpit verlassen und das Kommando alleine dem Copiloten überlassen. Bisher müssen sich nur in den USA immer zwei Crewmitglieder im Cockpit befinden. Mittlerweile haben auch einige europäische Fluggesellschaften, darunter die britische Airline Easyjet, reagiert und die amerikanische Regelung eingeführt.

Der Kapitän hat das Cockpit verlassen. Als er wenig später in die Kanzel zurückkehren will, bleibt die Tür von innen verschlossen. Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 sind die Cockpit-Türen speziell gesichert. Ohne Code kommt niemand hinein. Doch selbst mit Code ist der Zutritt nicht garantiert - die Tür lässt sich von innen verriegeln. Das geschah offenbar in der Germanwings-Maschine. Andreas L. hatte sich eingesperrt, auf Rufe und Klopfen des Kapitäns reagierte er nicht. "Man hört deutlich auf dem Stimmenrekorder, dass der Kapitän heftig gegen die Tür hämmert und den Copiloten auffordert, die Tür zu entriegeln", so Robin.

Auch die Flugsicherung, die mehrmals versucht, Kontakt zur Maschine aufzunehmen, erhält keine Antwort mehr. Im Cockpit, so schilderte es Robin, herrscht während der letzten acht Minuten vor dem Absturz Stille. Andreas L. spricht kein Wort mehr. Man hört ihn atmen, bis die Aufnahme abbricht und die Maschine zerschellt.

Die letzten Momente an Bord von Flug 4U9525

Der Copilot

Der 27 Jahre alte Mann, der absichtlich einen Airbus abstürzen ließ und 149 Menschen mit in den Tod riss, erwarb seinen ersten Flugschein schon als Teenager: eine Segelfluglizenz. In einem Flugsportklub im Westerwald nahe seiner Heimatstadt Montabaur verfolgte er seinen "Traum vom Fliegen", wie es in einer Kondolenzmitteilung auf der Seite des Vereins heißt - bis zum Ersten Offizier an Bord der A320. Von 2008 an wurde Andreas L. in der konzerneigenen Verkehrsfliegerschule der Lufthansa ausgebildet. Danach war er als Flugbegleiter für Lufthansa tätig. Seit 2013 flog er für die Lufthansa-Tochter Germanwings und hatte 630 Flugstunden gesammelt - der erfahrene Kapitän der Maschine hatte etwa zehnmal so viele Stunden absolviert.

L. hatte seine Ausbildung bei der Lufthansa für mehrere Monate unterbrochen - zu den Gründen äußerte sich Lufthansa nicht; es hieß allerdings, das sei ein üblicher Vorgang. Konzernchef Carsten Spohr und der ermittelnde Staatsanwalt von Marseille betonten, L. sei absolut qualifiziert gewesen, die Maschine allein zu steuern. "Er hat alle Tests bestanden, er war hundertprozentig flugtauglich und die fliegerischen Leistungen waren einwandfrei", sagte Spohr. Am Nachmittag durchsuchte die Polizei seine Wohnung in Düsseldorf.

Lesen Sie hier, was bisher über den Copiloten bekannt ist.

Die Angehörigen

Mit zwei Sonderflügen aus Düsseldorf und Barcelona fliegt die Lufthansa die Angehörigen der Opfer am Morgen nach Marseille. Von dort werden sie mit Bussen nach Seyne-les-Alpes gebracht, dem kleinen Ort in der Nähe der Absturzstelle. Am späten Nachmittag treffen sie dort an einem Jugendzentrum ein, das von einem Großaufgebot der französischen Polizei hermetisch abgeriegelt wird. Kein Unbefugter soll an die Angehörigen herankommen und sie belästigen. Ein Team aus Seelsorgern, Notfallpsychologen und Übersetzern betreut die Gruppe vor Ort.

Innerhalb von zwei Tagen hatte die Einsatzleitung in Seyne-les-Alpes 900 Schlafmöglichkeiten für die Angehörigen eingerichtet. Hotels stellen kostenlos Zimmer zur Verfügung, mehr als 100 Privatpersonen hatten angeboten, die Hinterbliebenen aufnehmen zu wollen. Lufthansa-Chef Carsten Spohr sicherte zu, dass die Lufthansa die Angehörigen in den kommenden Monaten finanziell unterstützen werde.

Am Nachmittag wurde bekannt, dass die Eltern des Copiloten ebenfalls an Bord der Sondermaschine nach Marseille waren. Sie wurden nach der Landung allerdings von den anderen Familien abgeschirmt.

Die Reaktionen

Durch die Erklärung der Marseiller Staatsanwaltschaft habe die Tragödie eine neue, "schier unfassbare Dimension" angenommen, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel. "Mich trifft diese Nachricht wie wohl die meisten Menschen." So etwas gehe "über jedes Vorstellungsvermögen hinaus". Nun sei es wichtig, so Merkel, gründlich weiterzuermitteln.

Bestürzt zeigte sich auch Lufthansa-Chef Carsten Spohr. "Die neuen Informationen aus Frankreich machen uns fassungslos", sagte Spohr auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Germanwings-Geschäftsführer Thomas Winkelmann. Beide waren sichtlich bewegt. Es handle sich um das furchtbarste Ereignis in der Geschichte des Unternehmens, sagte Spohr. "Wir hätten uns eine solche Tragödie in unseren schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können."

Über die Motive Andreas L.s wollte der Lufthansa-Chef nicht spekulieren: "Wir haben keinerlei Erkenntnisse, was den Copiloten zu dieser schrecklichen Handlung veranlasst haben könnte", sagte Spohr. "Wir alle stehen vor einem riesigen Rätsel." Gefragt, ob es sich um einen Suizid handele, sagte Spohr: "Wenn ein Mensch 149 Menschen mit in den Tod nimmt, ist das ein anderes Wort als Selbstmord."

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