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Germanwings-Absturz:Wenn das Leben in davor und danach zerfällt

Lesezeit: 10 min

Genau ein Jahr ist der Germanwings-Absturz jetzt her. Richtig fassen kann die Katastrophe bis heute niemand. Versuch einer Rekonstruktion aus mehreren Perspektiven.

Von Oliver Klasen

DAS GEDENKEN

In Prads-Haute-Bléone, einem winzigen Ort mitten in den französischen Seealpen, hat ein Künstler 149 Metallstäbe auf ein Kiesfundament montiert. Die Stäbe, dünn und nur am Boden fixiert, bewegen und berühren sich gegenseitig, wenn der Wind etwas stärker weht, und das tut er oft hier auf 1500 Metern Höhe. Es entstehen dann Töne, die bis weit in die Berge hinein zu hören sind. Jeder der Stäbe erinnert an einen Menschen, der jetzt tot ist, gestorben, als Germanwings-Flug 4U9525 heute genau vor einem Jahr hier im Massif des Trois-Évêchés zerschellte, absichtlich zum Absturz gebracht vom Copiloten Andreas Lubitz.

Die Erinnerung an die Opfer der schlimmsten Luftfahrtkatastrophe, an der eine deutsche Airline je beteiligt war, hat inzwischen viele Orte bekommen. Eine Gedenktafel am Joseph-König-Gymnasium in Haltern am See, kupferfarben, eingestanzt die Namen der 16 Schüler und zwei Lehrerinnen, die bei der Katastrophe starben. Ein auf einen Sockel montierter Stein in der Innenstadt mit den eingravierten Namen. Auch an den Flughäfen in Düsseldorf und Barcelona sowie an der spanischen Schule, die die Mädchen und Jungen aus Haltern zu einem Austausch besucht hatten, wurden vor einigen Tagen Gedenkstellen errichtet. Sie alle dokumentieren das Unglück, doch erklären können sie es nicht.

Um 10.41 Uhr, genau zu dem Zeitpunkt, als die Maschine an jenem 24. März vor einem Jahr aufschlug, gab es am Donnerstag in Haltern eine Gedenkminute. Viele der Angehörigen, etwa 600 sollen es sein, sind jedoch nach Frankreich gereist. Mit drei Sondermaschinen flog die Lufthansa sie nach Marseille, wo am Mittwochabend ein Gottesdienst stattfand. Am nächsten Tag geht es nach Le Vernet, dem Ort wenige Kilometer von der Absturzstelle entfernt, an dem sich die Hinterbliebenen auch im vergangenen Jahr versammelt hatten. Verwandte können sich auf Wunsch ins Gebirge zum Col de Mariaud bringen lassen. Von dem Bergrücken aus ist die mit einem Zeichen markierte Absturzstelle zu sehen.

Die zuständige Départementverwaltung rief, genau wie damals, die Gendarmerie zu Hilfe und bot alles an Sicherheitskräften auf, was verfügbar war, um allzu aufdringliche Journalisten und Schaulustige abzudrängen, um also zu garantieren, dass Menschen, die ihre engsten Familienmitglieder oder Freunde verloren haben, in Ruhe trauern können. Deshalb gab es auch keine Rede irgendwelcher Minister oder Funktionäre. "Das soll eine Zeremonie für die Familien werden, die unter sich bleiben wollen", hatte Bernard Guerin, der Präfekt des Départements Alpes-de-Haute-Provence zuvor gesagt.

Sie blickten in Le Vernet auch auf eine Gedenktafel. Sie sieht ein wenig aus wie ein Grabstein, aufgestellt schon zwei Tage nach dem Unglück, mit Aufschriften in französisch, deutsch, spanisch und englisch. Anfangs stand sie einsam im Wind, davor ein riesiger Haufen von Blumen und Kerzen, dahinter nur die weite Hochebene und das schneebedeckte Bergmassiv.

Jetzt haben sie auf der Rückseite eine Hecke aus Tuja-Bäumen gepflanzt und einen Zaun gezogen, so als könne man damit das Unglück wenigstens ein bisschen eingrenzen.

DER ABSTURZ

124 Seiten umfasst allein die Zusammenfassung des Abschlussberichts der französischen Flugunfallbehörde BEA ( hier die deutsche Version als PDF), der vor etwa zehn Tagen in Paris veröffentlicht wurde. Aus den Auswertungen des Flugdatenschreibers und des Stimmrekorders ist der Verlauf des letzten Fluges von 4U9525 fast sekundengenau rekonstruierbar.

  • Genau 10:00 MEZ Start von Piste 07R des Flughafens Barcelona-El Prat.
  • 10:02:54 Einschalten des Autopiloten im Modus CLIMB.
  • Zwischen 10:16 und 10.27: Diskussion zwischen Kapitän und Copilot über den verspäteten Abflug aus Barcelona und wie damit umgegangen werden soll.
  • 10:27:20 Erreichen der Reiseflughöhe, Flugfläche 380, das entspricht 11 600 Metern Höhe.
  • 10:30:00 Die Besatzung ist auf der Frequenz 133,33 MHz in Kontakt mit der Flugsicherung in Marseille. Der Kapitän erhält die Freigabe für den direkten Flug zum Navigationspunkt IRMAR, eine Routine-Anweisung. Es ist der letzte Funkkontakt mit der Maschine.
  • 10:30:08 Der Kapitän sagt zum Copiloten, dass er das Cockpit kurz verlassen muss.
  • 10:30:13 Geräusche vom Bewegen eines Pilotensitzes 10:30:24 Geräusche, die durch Öffnen und Schließen der Cockpittür hervorgerufen werden.
  • 10:30:53: Die programmierte Höhe verändert sich innerhalb einer Sekunde von 38 000 Fuß auf 100 Fuß, die niedrigste Höhe, die bei einem A320 eingestellt werden kann.
  • 10:33:12 Die Regelung der Geschwindigkeit wird von "Managed Mode" in den "Select Mode" gestellt. Die Zielgeschwindigkeit wird auf 308 Knoten erhöht.
  • 10:33:47 (bei 30 000 Fuß, durchschnittliche Sinkrate 3500 Fuß pro Minute) Der Fluglotse fragt nach der freigegebenen Reiseflughöhe. Der Copilot antwortet nicht. Auch dann nicht, als der Fluglotse in der folgenden Minute noch drei Mal nachfragt.
  • 10:34:23 Die Zielgeschwindigkeit wird nochmals auf 323 Knoten erhöht.
  • 10:34:31 Der Türsummer wird betätigt. Der Kapitän möchte wieder ins Cockpit.
  • 10:34:47 (bei 25 100 Fuß) Das Kontrollzentrum in Marseille versucht vergeblich, Kontakt mit der Maschine aufzunehmen. Es tut dies innerhalb von gut zwei Minuten insgesamt sieben Mal.
  • 10:35:03 Die Geschwindigkeit wird abermals erhöht. Auf 350 Knoten.
  • 10:35:04 Der Kapitän betätigt die Klingel einer Gegensprechanlage zur Kommunikation zwischen Cockpit und Kabine. Er tut dies innerhalb von viereinhalb Minuten insgesamt vier Mal.
  • 10:35:32 Der Kapitän klopft an die Cockpittür. Er tut dies innerhalb von dreieinhalb Minuten insgesamt sechs Mal.
  • 10:37:11 In den folgenden Minuten versucht der Kapitän etliche Male, durch Rufen den Copiloten zum Öffnen der Tür zu bewegen.
  • 10:38:38 Die französische Luftverteidigung versucht, auf der Frequenz 121,5 MHz Kontakt mit der Maschine aufzunehmen. Sie tut das innerhalb von 45 Sekunden dreimal.
  • 10:39:30 Der Kapitän schlägt im Laufe der nächsten Minute fünfmal heftig gegen die Cockpittür. Vermutlich versucht er, die Tür aufzubrechen.
  • 10:39:54 Die Besatzung eines anderen Flugzeuges versucht vergeblich, Kontakt mit Flug 4U9525 aufzunehmen.
  • 10:40:41 Das akustische Warnsignal "Terrain, Terrain, Pull Up, Pull Up" wird ausgelöst und bleibt für den Rest des Fluges aktiv.
  • 10:41:06 Die Aufzeichung stoppt mit dem Aufschlag auf das Gelände.

Der Abschlussbericht der Flugunfall-Ermittlungsbehörde BEA - in nüchterner Behördensprache verfasst - nennt Lubitz nie beim Namen. Er bleibt stets "der Copilot". Neben den Angaben zum Flugverlauf enthält das Papier Informationen über die Flugerfahrung der beiden Piloten, über den Zustand und die technische Ausstattung des Flugzeuges, über die Krankengeschichte von Lubitz, über die üblichen Regularien, die in Deutschland für flugunfähige Piloten gelten und darüber, mit welchen Maßnahmen sich ähnliche Unglücke in Zukunft möglicherweise verhindern lassen.

Im Bericht steht nichts über den Horror der Passagiere, als sie - vermutlich erst in den letzten Sekunden - bemerkten, dass sie abstürzen werden. Es steht dort auch nichts über die Trauer, die Wut und die Verzweiflung der Angehörigen. Und schließlich benennen die BEA-Ermittler auch keine Verantwortlichen, gar Schuldigen.

Der Bericht dokumentiert die Katastrophe. Aber er erklärt sie nicht.

DIE FLUGGESELLSCHAFT UND DIE FOLGEN

"Jeder Lufthanseat weiß, wo er am 24. März um 11 Uhr war. Und es gibt wenige von uns, die da nicht jeden Tag dran denken", sagt Carsten Spohr, Chef der Lufthansa. Das Unglück habe das Unternehmen verändert. Ein deutsches Flugzeug stürzt nicht einfach so ab - das galt als sicher. Darauf verließen sich nicht nur Passagiere, davon waren auch die Mitarbeiter der Lufthansa überzeugt. Vor dem Absturz in Frankreich hatte es mehr als 20 Jahre keinen ernsten Zwischenfall mehr gegeben.

Eine Flugzeugentführung oder Sabotage war vorstellbar, schließlich ist das bereits vorgekommen, 1977 im Deutschen Herbst, als palästinesische Terroristen die Landshut kaperten, um RAF-Gefangene freizupressen. Auch ein technischer Defekt war theoretisch denkbar, obwohl Wartung und Instandhaltung der Maschinen im Lufthansa-Konzern als vorbildlich gelten. Doch das einer der eigenen Piloten ein ihm anvertrautes Flugzeug absichtlich in den Berg steuert - das erschütterte das Selbstverständnis der Lufthansa.

In den ersten Tagen nach der Katastrophe wurde Spohr gelobt dafür, dass er sich nicht versteckte, sich den Fragen stellte und da war für die Angehörigen. Einen Vorschlag setzte er sofort um: die Zwei-Personen-Regel, die in vielen anderen Ländern längst Standard war. Verlässt einer der Piloten das Cockpit, muss seither immer ein anderes Mitglied der Crew nach vorne kommen.

Dennoch ertönte bald Kritik. Ein Vater schrieb dem Lufthansa-Chef im Namen von 32 Hinterbliebenen einen offenen Brief. Darin heißt es: "Wir hatten erwartet, irgendwann in diesen schweren Tagen eine Entschuldigung von der Lufthansa zu hören. Nichts haben wir gehört", heißt es darin.

Und dann, vor wenigen Tagen, ein besonders schwerer Termin. Auf der Bilanzpressekonferenz verkündet Vorstandsvorsitzender Spohr, dass die Lufthansa im vergangenen Jahr so viel Gewinn gemacht hat wie noch nie in ihrer Geschichte. Gleichzeitig muss er sich dazu äußern, was sein Unternehmen aus der Katastrophe gelernt hat. "Ein Jahr, in dem 150 Menschen tot sind, kann für mich kein Rekordjahr sein. Das schreckliche Ereignis hat mir die Bedeutung der Sicherheit vor Augen geführt" , sagt Spohr und versucht so die Balance zu halten.

Im Abschlussbericht der französischen Flugunfallbehörde BEA wird festgestellt, dass das Verhalten der Fluglinie im Falle des Copiloten Lubitz keine Vorschriften missachtet hat. Das klingt gut, doch die Unfallermittler äußern massive Zweifel an eben diesen Vorschriften, die in Deutschland gelten. Besonders brisant ist die Forderung, die ärztliche Schweigepflicht zu lockern. Die BEA regt an, explizit zu regeln, dass im Zweifelsfall die Flugsicherheit höher zu bewerten ist und sogar eine Pflicht bestehen sollte, Arbeitgeber über etwaige schwerwiegende Erkrankungen zu informieren. Außerdem rät die Behörde, Piloten weitaus häufiger "psychologisch und psychiatrisch" auf die Flugfähigkeit zu testen und ihnen bessere Verdienstausfall-versicherungen anzubieten, wenn sie ihren Job nicht mehr ausüben können.

Die BEA kann nur Empfehlungen aussprechen. Bis daraus Gesetze werden, kann es Monate oder sogar Jahre dauern.

DIE HINTERBLIEBENEN

In den zwölf Monaten seit dem Absturz haben die Hinterbliebenen sich nur sehr zurückhaltend geäußert. Sie haben darum gebeten, in ihrer Trauer unbehelligt zu bleiben, beispielsweise im Oktober, als die Kanzlerin in Haltern am See war, um mit den Eltern und Freunden der toten Schüler zu sprechen. All das geschah damals hinter verschlossenen Türen. Keine Fotos, keine Interviews. Auch wenn Angehörige Unmut kundtaten, etwa über die Informationspolitik der Lufthansa oder über Schreibfehler, durch die sich die Überführung der Leichen verzögerte, lief das meist über die Anwälte.

In den vergangenen Wochen sind einige von ihnen doch an die Öffentlichkeit gegangen. Vielleicht, weil sie sich nicht mehr abschotten wollten. Vielleicht, weil sie Projekte ins Leben gerufen haben, in denen der tote Partner, der tote Freund, das tote Kind weiterleben sollen. Und vielleicht auch, weil es einigen Menschen nach Monaten sehr intensiver Trauer hilft, aller Welt zu zeigen, dass sie nicht zerbrochen sind, trotz allem.

Die Eltern dreier ums Leben gekommener Schüler äußerten sich in einem Stern-Interview und erzählten, wie sie mit ihrer Verzweiflung umgehen. Einige Angehörige erzählten ihre Geschichte anhand von persönlichen Gegenständen der Toten, die die Rettungskräfte aus den Trümmern gerettet haben. Annette Bleß, die bei dem Unglück ihre Tochter verlor, fördert Auslandspraktika und Schüleraustausche. Andere Eltern unterstützen in Gedenken an ihren Sohn Sportvereine und schulische Einrichtungen. Und der 27-jährige Daniel Nowak erzählte der SZ von seiner Form der Traumabewältigung: In Gedenken an seine tote Freundin gründete er die Juliane-Noack-Stiftung, die jungen Künstlern beim Eintritt in das Berufsleben hilft.

DIE ANWÄLTE

"Unterirdisch" hat der Mönchengladbacher Anwalt Christoph Wellens das Verhalten des Lufthansa-Konzerns in einem Interview genannt. "Lächerlich" und "in keiner Weise angemessen" seien die Zahlungen, die die Lufthansa-Tochter Germanwings den Angehörigen der Absturzopfer bisher angeboten habe.

Nach Angaben der Fluglinie ist für jedes Opfer eine Soforthilfe von 50 000 Euro überwiesen worden, hinzu kommen Schmerzensgelder in fünfstelliger Höhe. Insgesamt, so heißt es vom Unternehmen, seien bisher 11,2 Millionen Euro ausgezahlt worden. Man rechne aber damit, dass sich diese Summe noch erhöhe, weil in einigen Fällen noch geklärt werden müsse, wie hoch die materiellen Schäden sind, die Hinterbliebene geltend machen können.

Opferanwalt Wellens, der Dutzende Familien vertritt, hat gemeinsam mit seinem Berliner Kollegen Elmar Giemulla eine Kanzlei in New York beauftragt, um vor einem US-Gericht deutliche höhere Entschädigungszahlungen zu erstreiten. Die Zivilklage richtet sich konkret gegen die Flugschule, an der Lubitz in den Jahren 2010 und 2011 vier Monate lang ausgebildet wurde.

Lubitz sei "physisch krankhaft vorbelastet" gewesen, habe seine Laufbahn zwei Jahre zuvor wegen schwerer Depressionen unterbrochen. Die Lufthansa habe mit seiner Einstellung "einen Fehler mit schrecklichen Folgen" begangen. "Die Verantwortlichen hätten begreifen müssen, dass man eine Person, die ein halbes Jahr behandelt werden und Psychopharmaka nehmen musste, nicht für diesen Job ausbildet", sagt Wellens. Hinzu komme, dass der Pilot trotz seiner Vorgeschichte in den Jahren danach nicht mehr psychiatrisch untersucht worden sei.

Lufthansa will keine Verhandlungen mit US-Anwälten führen und ist der Ansicht, dass das US-Recht in diesem Fall nicht gilt. Die beiden Anwälte rechnen sich dagegen gute Erfolgschancen aus und wehren sich dagegen, dass es in ihrem Rechtsstreit um die nicht zu beziffernde Frage nach dem Wert eines Menschenlebens geht.

Der WAZ sagte Wellens, er betreue unter anderem zwei Voll­waisen und Familien, die durch das Unglück den Ernährer verloren. Da wolle er mit dem Konzern nicht über 200 Euro Fahrtkosten diskutieren müssen oder ein größeres Auto für Pflegeeltern, die plötzlich vier statt zwei Kinder hätten.

Eingereicht beim zuständigen Gericht in Phoenix im US-Bundesstaat Arizona wurde die Klage am Mittwoch, einen Tag bevor sich die Katastrophe zum ersten Mal jährt.

DER CO-PILOT

Wer war Andreas Lubitz? Was trieb ihn dazu, mit Absicht gegen einen Berg zu fliegen und 149 Menschen zu töten? An welcher Stelle verlor er die Kontrolle über sein Leben und an welcher Stelle hätte man von außen eingreifen können, um die Katastrophe vielleicht abzuwenden?

In den vergangenen Monaten sind sehr viele Fragmente an die Öffentlichkeit gelangt, die bei der Beantwortung dieser Fragen helfen sollen. Einen Abschiedsbrief, der seine Motive erklären könnte, hat Lubitz nicht hinterlassen. Die Rekonstruktion ist deshalb aufwendig. Es gab viele Mutmaßungen, auch einige Falschmeldungen und erst sehr langsam kristalliert sich ein einigermaßen vollständiges Bild heraus. Die Ermittler sichteten Patientenakten, Tagebuchaufzeichnungen und Lubitz' Tablet-Computer, mit dem er nach dem Verriegelungsmechanismus für Cockpittüren suchte und nach verschiedenen Methoden, sich das Leben zu nehmen.

Gut dokumentiert ist inzwischen die erste depressive Episode, die Lubitz Ende 2008 ereilte und ihn dazu zwang, die Pilotenschule bei der Lufthansa in Bremen für ein Dreivierteljahr zu unterbrechen. EIn Fliegerarzt attestierte ihm anschließend, dass die Krankheit "vollständig abgeklungen" sei. Lubitz erhielt seine Lizenz zurück, allerdings mit dem Vermerk "SIC", der anzeigt, dass in der Vergangenheit eine Erkrankung vorgelegen hat. Lubitz wurde in den Jahren danach in regelmäßigen Abständen ärztlich untersucht, allerdings nicht systematisch psychiatrisch begutachtet.

Depressive Episoden sind, mit einer Kombination aus Antidepressiva und Psychotherapie, meist recht gut behandelbar - und in der Bevölkerung weit verbreitet ( hier die Leitlinien, nach denen deutsche Psychotherapeuten Depressionen behandeln). Die Chance, innerhalb eines Lebens mindestens einmal eine solche Episode zu erleiden, liegt bei zehn bis 15 Prozent. Zudem tendieren Depressionen dazu, nach einer langen Phase ohne Symptome, manchmal Jahre später, zurückzukehren, zu rezidivieren sagen die Fachleute

Offenbar passierte das auch bei Lubitz, möglicherweise in Kombination mit einer schweren Angststörung. Ein Psychiater, den Lubitz zwei Wochen vor der Katastrophe aufsuchte, vermutete sogar eine beginnende Psychose und empfahl eine stationäre Behandlung.

Im Zentrum stand wohl die - nicht begründete - Angst, das Augenlicht zu verlieren und damit auch die Pilotenlizenz. Lubitz, das ist durch die Ermittlungen inzwischen gesichert, war in den Monaten vor seinem Tod in Dutzenden Praxen und Krankenhäusern in Behandlung. Er besuchte Hausärzte, niedergelassene Augenärzte, Augenkliniken, Neurologen, Psychiater und Psychologen.

Einen Patienten auf Suizidalität zu untersuchen, gehört beim Verdacht auf eine depressive Erkrankung zum Standardrepertoire bei der Anamnese. Allerdings ist sie nicht immer leicht zu erkennen. Gerade kurz vor dem Suizid, wenn der Entschluss zur Selbsttötung getroffen ist, ist oft eine Stimmungsaufhellung spürbar. Klar ist, dass für den Tag der Katastrophe gleich mehrere Krankschreibungen vorlagen, von denen Germanwings allerdings nichts erfuhr und dass Lubitz - in dem Gemütszustand, in dem er sich befand und bei den Medikamenten, die er verschrieben bekam - niemals hätte ein Flugzeug steuern dürfen.

An welcher Stelle der entscheidene Fehler gemacht wurde, welcher Arzt oder Psychiater wann und wem hätte ein Alarmsignal geben müssen, wird sich wohl kaum aufklären lassen. Wie so oft ist es eine Verkettung einzelner Versäumnisse, die zur Katastrophe führte.

Mit einer Therapie hätte Lubitz vermutlich geholfen und 149 anderen Menschen damit das Leben gerettet werden können. Doch dazu kam es nicht mehr.

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