Germanwings-Hinterbliebene:Suche nach dem Systemfehler

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Vor der Gedenktafel in dem kleinen französischen Ort Le Vernet kommen jedes Jahr am 24. März die Hinterbliebenen zusammen. (Foto: Sean Gallup/Getty Images)

Die Angehörigen der Opfer des Germanwings-Absturzes wollten erreichen, dass die Lufthansa Fehler bei der Beurteilung des Kopiloten Andeas Lubitz eingestehen muss. Nun scheiterten sie vor Gericht.

Von Oliver Klasen

Angehörigen kann es in ihrer Trauer helfen, demjenigen, der für den Verlust verantwortlich ist, von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu sitzen, in einem Gerichtssaal zum Beispiel. Sie bekommen dann womöglich Antworten, vielleicht sogar eine Entschuldigung. Im Fall der Germanwings-Katastrophe ist das unmöglich. Der vermutlich Schuldige ist tot, wie die 149 anderen Insassen des Airbus, der am 24. März 2015 an einem Berg in den französischen Alpen zerschellte. Der Kopilot Andreas Lubitz, der die Maschine wohl zum Absturz brachte, hätte aber nie als Pilot oder Kopilot in einem Flugzeug sitzen dürfen - davon sind die Angehörigen und ihre Anwälte überzeugt.

Nach einer während seiner Flugausbildung 2008 und 2009 diagnostizierten Depression hätte die Fluggesellschaft ihn engmaschiger überwachen müssen, so ihre Argumentation. Mehrere Zivilgerichtsprozesse haben die Hinterbliebenen deshalb angestrengt. Einer davon ist am Mittwoch in Essen zu Ende gegangen. Mit einem Rückschlag, denn die Klage wurde abgewiesen.

"Irgendjemand hätte sagen müssen: Du steigst in kein Cockpit mehr"

Nach Ansicht des Gerichts war die Fluggesellschaft der falsche Adressat für die Klage. Denn für eventuelle Fehler von Ärzten sei nicht die Lufthansa oder die mit Lufthansa verbundene Flugschule in den USA, an der Lubitz ausgebildet wurde, verantwortlich. Die Flugtauglichkeit eines Piloten zu prüfen, sei Aufgabe des Luftfahrtbundesamtes. "Niemand käme auf die Idee, den Fahrlehrer, der die Überlandfahrten begleitet hat, in die Pflicht zu nehmen, wenn ein Autofahrer Jahre später in den Gegenverkehr fährt", hatte der Vorsitzende Lars Theissen in seiner Urteilsbegründung gesagt.

Ein Satz, der Klaus Radner übel aufstieß. Er hat bei der Katastrophe seine Tochter, deren Mann und das Enkelkind verloren. "Ich hab da gestern wirklich geschluckt, als es hieß, die Lufthansa habe damit nichts zu tun", sagt Radner am Donnerstag am Telefon. Radner, der in Düsseldorf als Unternehmer arbeitet, war der einzige Hinterbliebene, der persönlich im Gerichtssaal war. Er fährt jedes Jahr am 24. März an den Absturzort in Frankreich. Nur in diesem Jahr nicht, wegen des Coronavirus.

Radner kritisiert, dass Ermittler und Gerichte stets allein den Kopiloten als Schuldigen betrachtet hätten. Er ist überzeugt, dass an einer oder mehreren Stellen im System Fehler gemacht wurden. Ob es Lufthansa gewesen sei, die Fliegerärzte, einer der mehr als 40 Mediziner, Psychiater und Therapeuten, die Lubitz in den Wochen vor dem Absturz konsultierte, oder jemand aus der Familie: "Irgendjemand hätte sagen müssen: Du steigst in kein Cockpit mehr", sagt Radner.

Die juristische Aufarbeitung könnte am Ende ähnlich ausgehen wie beim Loveparade-Unglück

Auch Elmar Giemulla, der Anwalt, der Radner und zahlreiche andere Angehörige vertritt, ist der Ansicht, dass das Essener Gericht "sich auf elegante Weise von dem Prozess befreien wollte, ohne große weitere Recherchen anzustellen". Hätten Zeugen befragt oder Sachverständige gehört werden müssen, "wäre das Gericht vielleicht zwei Jahre beschäftigt gewesen", sagt Giemulla.

Die Materie ist kompliziert. Juristische Spezialfragen sind Angehörigen wie Radner im Zweifel egal, genauso wie die Höhe des Schmerzensgeldes. Denkbar wäre nun, dass die Angehörigen das Luftfahrtbundesamt verklagen, und damit indirekt den Staat. Anwalt Giemulla hält das aber für den falschen Weg. Er sieht die Verantwortung bei der Lufthansa, deren Sicherungssystem versagt habe und die den Fall des einst psychisch angeschlagenen Lubitz "nicht hätte so behandeln dürfen wie alle anderen Fälle".

Der Münchner Anwalt Nikolai Ehlers, der im Vorstand der European Air Law Association sitzt und Airlines und Luftfahrtversicherer vertritt, hält es zwar auch für möglich, dass man einzelnen Stellen Fehler nachweisen könne. Aber selbst dann stelle sich die Frage nach der Verjährungsfrist. Außerdem sei der Germanwings-Absturz "eine derart außergewöhnliche Situation, dass man darüber meiner Ansicht nach nicht den Stab brechen muss über das System an sich", sagt Ehlers.

Die juristische Aufarbeitung könnte am Ende ähnlich ausgehen wie der Prozess um die Loveparade-Katastrophe, der im Mai wegen drohender Verjährung eingestellt wurde, ohne dass einem der Angeklagten eine konkrete Schuld nachgewiesen werden konnte. Klaus Radner weiß das. Und trotzdem: Er wird weiterhin zu jedem Prozess gehen.

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