Gerichtsgutachter Egg:"Manche Gewalttäter sind wie Alkoholiker"

Police tape and police officer are seen in Tiefenthal

Ein Tatort in Bayern. Gutachter Egg beschäftigt sich jeden Tag mit Verbrechen.

(Foto: REUTERS)

Ist Anders Breivik krank? Oder ist er böse? Wie konnten sich die Gutachter bei Gustl Mollath so irren? Und warum hatte die Psychologie keine Antwort auf die NSU-Morde? Rudolf Egg, außerplanmäßiger Professor für Psychologie in Erlangen und ehemaliger Direktor der Kriminologischen Zentralstelle, arbeitet seit Jahrzehnten als Kriminalpsychologe.

Im Auftrag der Justiz muss er entscheiden, ob ein Straftäter schuldfähig ist, ob ein Häftling rückfällig wird - und ob ein Zeuge lügt. Nun hat er ein Buch über die Macht der Sachverständigen geschrieben. Im Gespräch erzählt er, wie er bei seiner Arbeit vorgeht - und wann er sich geirrt hat.

Von Anna Fischhaber

Herr Egg, Sie sind Gerichtsgutachter. Gibt es den typischen Verbrecher?

Statistisch gesehen, ist der typische Verbrecher männlich, jung und ledig. Und gewalttätig. Zumindest die, mit denen ich zu tun habe. Als Gutachter befasse ich mich nahezu ausschließlich mit Gewalt- und Sexualdelikten.

Was reizt Sie an diesem Beruf?

Nicht alles, was ich mitbekomme, ist schrecklich. Ich finde es immer wieder erstaunlich, in welche Konflikte Menschen hineingeraten. Aber auch, wie sie wieder herausfinden. Als Gutachter hebe oder senke ich ja nicht nur den Daumen, sondern ich verschaffe mir ein komplettes Bild. Demnächst treffe ich einen Straftäter zum vierten Mal seit 2009. Er ist seit 1999 im Gefängnis wegen schweren Raubes, hat einen langen und schweren Weg hinter sich und hofft, dass er nun entlassen werden kann.

Wie gehen Sie bei der Arbeit vor?

Ich muss versuchen, das Verbrechen von dem Menschen, der vor mir sitzt, zu trennen. Viele Straftäter sind zunächst nicht sehr umgänglich. Aber auch zu einem Mörder kann man, wenn man mit ihm über seine Kindheit und sein Leben redet, eine gewisse Nähe entwickeln. Ich schaue mir nicht nur die Tat an, sondern die gesamte Biografie, die Personen, die ihm wichtig sind, die Haftzeit, die Chancen für einen Neuanfang.

Rudolf Egg

Begutachtet vor allem Gewalt- und Sexualtäter: Rudolf Egg.

(Foto: Kriminologische Zentralstelle Wiesbaden)

Wie oft liegen Sie mit Ihrer Einschätzung daneben?

Bislang ist mir kein Fehler bekannt, jedenfalls kein grober. Aber oft bekomme ich gar nicht mit, wie sich jemand nach meinem Gutachten entwickelt. Ich kann nur aktiv werden, wenn ein Gericht oder eine Vollzugsanstalt mich darum bitten. Ich sehe also meine eigenen Fehlern nicht automatisch, dafür lerne ich manchmal aus den Fehlern anderer Gutachter. Gerade habe ich einen Fall, in dem ein Vergewaltiger nach mehrjähriger Strafe entlassen wurde und nur Wochen später wieder eine Frau überfallen hat. Damit hatte niemand gerechnet, weder sein Therapeut noch sein Gutachter. Ich muss klären, was schief gelaufen ist. Und natürlich frage ich mich, ob mir der Fehler auch passiert wäre.

Wäre er?

Wenn ich ehrlich bin: Ich weiß es nicht. Die Kollegen gingen damals davon aus, dass es sich um eine einmalige Tat in einer krisenhaften Situation handelte. Der Mann war nicht vorbestraft und arbeitete in der Therapie gut mit, machte sogar erstmals eine Ausbildung im Gefängnis. Man hat sich aber nur den Täter angesehen, weniger seine Tat. Dabei war die erste Vergewaltigung sehr massiv. Es ging ihm dabei nicht nur um Sex, sondern um Dominanz, um Demütigung, um seelische Verletzung - dieser Mann hat einen Kick erlebt, den er wieder haben wollte.

"Ich bin nicht Doktor Allwissend"

Sie müssen auch beurteilen, wie gefährlich ein Mensch ist. Wie geht das?

Ich bin nicht Doktor Allwissend. Wenn jemand noch keine Straftat begangen hat, kann ich nicht wissen, wie sich jemand in einer extrem schwierigen Situation verhalten würde. Ich kann nur versuchen, herauszufinden, was ein Mensch macht, wenn er wieder in so eine Situation gerät. Dazu muss ich in gewisser Weise versuchen, in den Schuhen des Täters zu gehen. Ein Exhibitionist hat mir das einmal sehr anschaulich erzählt: Das plötzliche Ausziehen vor Fremden habe bei ihm das gleiche Bauchgefühl ausgelöst, das er einmal beim Gleitschirmfliegen mit seinem Bruder erlebt hat. Ich konnte das zwar nicht wirklich nachvollziehen, aber hatte nun doch eine ungefähre Vorstellung von dem, was er meint. Und wie extrem dieser Kick für ihn war. Um zu sehen, wie sich ein verurteilter Straftäter in der Haft verändert hat, ist es wichtig, mit ihm über seine Tat zu reden.

Was sollte er denn sagen?

Natürlich ist es besser, wenn jemand Verantwortung übernimmt für das, was er getan hat. Wenn also jemand sagt: Ich habe zugeschlagen. Und nicht: Da ist mir dies oder das passiert. Erfahrene Täter wissen natürlich, was ich von ihnen hören will. Ich frage deshalb immer nach Details.

Kann Sie ein Täter nicht trotzdem überlisten?

Ich gehe immer davon aus, dass mir jemand seine Schokoladenseite zeigt - alles andere wäre überraschend. Bei den Zukunftsvorstellungen kommt es mir zudem nicht so sehr auf schöne Wünsche an, sondern auf konkrete Pläne. Noch einfacher ist es, wenn es eine erneute Konfliktsituation gibt, einen Streit am Arbeitsplatz etwa oder mit anderen Häftlingen. Dann kann ich mir anschauen, wie er jetzt damit umgeht. Kennt er seine Reißleine? Hat er sich im Griff? Manche Gewalttäter sind wie Alkoholiker; das Risiko, erneut auszurasten, bleibt ein Leben lang bestehen.

Welcher Ihrer Fälle ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Der Fall Sascha Buzmann. Der Junge wurde monatelang unter unvorstellbaren Bedingungen in einem Wohnwagen gefangen gehalten und missbraucht. Der Täter ist selbst sehr isoliert in diesem Wagen aufgewachsen, war immer wieder in der Psychiatrie. Dennoch kam er nach der Tat in ein normales Gefängnis ohne jede Therapie. Er wurde nach sieben Jahren Haft entlassen, ohne Wohnung und Arbeit. Wenige Monate danach hat er einen weiteren Jungen entführt. Ich war damals nicht der Gutachter, sondern habe mir später die Akten aus wissenschaftlichem Interesse angesehen. Ich wollte wissen, wie so eine Tat ein zweites Mal passieren konnte. Die Sachverständigen damals wussten nicht recht, wie sie diesen Eigenbrötler beurteilen sollen und ob er dauerhaft gefährlich ist. Aus heutiger Sicht wurde er einfach nicht richtig begutachtet. Das ist nun 30 Jahre her, wir würden jetzt gründlicher vorgehen, hoffe ich.

Haben Sie manchmal Angst, etwas zu übersehen?

Angst ist das falsche Wort, eher Sorge. Ein Gutachten ist immer eine schwierige Abwägung. Zum einen darf ich nicht dazu beitragen, dass jemand zu Unrecht entlassen und erneut straffällig wird. Aber wer seine Lektion gelernt und sich gebessert hat, der sollte auch nicht länger als notwendig in Haft bleiben. Laien glauben oft, unsere Expertisen hätten Ewigkeitswert. Aber nur weil ein Gutachter gesagt hat, jemand sei nicht mehr gefährlich, gilt das nicht für ein ganzes Leben. Höchstens für ein paar Jahre. Wenn jemand aber sofort wieder rückfällig wird, muss man sich schon fragen, was falsch gelaufen ist.

"Manchmal sind Gutachter die heimlichen Richter"

Oft wird die Macht von Gutachtern kritisiert. Wie viel Einfluss haben Sachverständige wirklich?

Manchmal sind Gutachter wohl tatsächlich die heimlichen Richter. Bei einer schwierigen Entscheidung kann es für die Richter eine Entlastung sein, Verantwortung an einen Sachverständigen abzugeben - und für den Gutachter ist das eine Aufwertung. Dabei sollte die Justiz den Sachverständigen ruhig mehr auf die Finger schauen. Wenn es um die Frage geht, ob ein Straftäter Freigang bekommt, müssen zwei Gutachter den Gefangenen unabhängig voneinander untersuchen. Für die Frage der Schuldfähigkeit vor Gericht - also ob man womöglich für immer in der Psychiatrie weggesperrt wird - genügt ein Gutachten. Selbst wenn der Angeklagte nicht mit dem Sachverständigen reden will.

Das erinnert an den Fall Mollath. Dieser hat viele verunsichert. Muss ich Angst haben, Opfer der Justiz zu werden, weil mich ein Gutachter für verrückt erklärt?

Besorgt darf schon sein, wer in falsche Hände gelangt. Gustl Mollath ist sicherlich kein ganz einfacher Mensch, der es den Richtern und Gutachtern besonders leicht gemacht hätte. Aber darum ging es ja nicht. Es ging um die Frage, ob er für die Allgemeinheit gefährlich ist. So steht es im Gesetz. Natürlich war dieser Fall nicht nur in Bayern ein Skandal, er hat auch bundesweit ausgestrahlt. Es ändert sich gerade etwas. Aber der Fortschritt ist manchmal eine Schnecke.

Was schlagen Sie vor, um die Strukturen zu verbessern?

Mehr Gutachter vor Gericht wären sicher sinnvoll, gerade bei komplizierten Fällen. Und als Wissenschaftler glaube ich auch an Aufklärung: Je mehr Menschen wissen, was bei einem Gutachten geschieht, desto besser. Sachverständige können nicht zaubern, das ist keine Geheimkunst. Gutachten sind heute zum Glück plausibler als noch vor einigen Jahren, es gibt Mindeststandards. Zumindest im Strafrecht. Beim Familienrecht besteht noch Nachholbedarf, aber auch daran wird gearbeitet.

Stichwort mehr Gutachter: Im Fall Breivik kamen zwei Gutachter zu völlig gegensätzlichen Ergebnissen. Wie ist das möglich?

Das hat mich auch gewundert, aber das hat wohl auch mit diesem einmaligen Fall zu tun. Mir ging es bei den NSU-Morden ähnlich. Die Polizei in Nürnberg hatte mich 2006, als noch alles ungeklärt war, um meine Einschätzung zu dieser Mordserie gebeten. Ich habe dann einen Nachmittag lang die Akten studiert und gerätselt - und mich genauso geirrt wie alle anderen. Ich dachte an Schutzgelderpressung, weil fast alle Opfer Männer aus einer Region waren, die in ihren Geschäften hingerichtet wurden, ohne Bekennerschreiben. Wenn ich heute noch einmal einen solchen Fall hätte, würde ich sicher sofort auch an rechten Terror denken, damals nicht. So ähnlich ging es vielleicht den Gutachtern bei Breivik: Sie haben vorher schon zahlreiche Mörder interviewt und waren mit einem wie Anders Breivik trotzdem überfordert. Die Frage ist: Ist der jetzt nur krank oder nur böse oder ist der eben beides?

"War Adolf Hitler krank?"

Wie hätten Sie entschieden?

Gegenfrage: War Adolf Hitler krank? Hätte er in die Psychiatrie gehört, weil er die Juden vernichten wollte? Es gibt klassische Krankheitsbilder: Ein Mensch wird auffällig, weil er Stimmen hört oder sich wahnhaft verfolgt fühlt. Dann heißt es: Der ist krank, der kann nichts dafür. Aber wie ist es mit extremistischen Einstellungen? Wie Europa mit dem Islam umgehen soll, wird ernsthaft diskutiert. Breivik überzieht das, er hasst Muslime, greift zu Massenmord. Ist er also bloß extrem im Denken? Oder ist er ernsthaft gestört und krank? Ich denke, der Übergang ist fließend. Seine Tat, der Massenmord, war sicher krank, aber ob er das als Täter, als Mensch auch ist? Ich habe da Zweifel.

Hatten sie schon einmal einen ähnlichen Fall auf dem Tisch?

Nein. Ich hatte zwar schon mit Rechtsextremen zu tun und mit Tätern, denen eine Nähe zum Salafismus nachgesagt wurde, aber nicht mit Terroristen. Das wäre sicher spannend. Es geht aber an die Grenzen der Klassifizierung. Und natürlich stellt sich auch immer die Frage, wie die Gesellschaft mit extremen Ansichten umgeht. Man sollte solche Menschen nicht vorschnell pathologisieren. Ich glaube zum Beispiel nicht, dass jemand, der ein Asylbewerberheim anzündet, in jedem Fall krank ist. Krankheit würde implizieren: Damit muss sich die Gesellschaft gar nicht auseinandersetzen. Das greift zu kurz.

Sie beurteilen nicht nur Straftäter, sondern sprechen auch mit Zeugen und überprüfen deren Glaubwürdigkeit. Wie erkennt man einen Lügner?

Ein Laie würde sich die Person anschauen und sich fragen: Ist das ein Lügner oder nicht? Ich sehe mir vor allem die Aussagen an. Offensichtlich ist es viel schwieriger, einen Sachverhalt zu erfinden als die Wahrheit zu sagen. Eine Erlebnisschilderung hat meist eine andere Qualität als eine Lüge. Leider gibt es aber auch Aussagen, von denen die Zeugen selbst glauben, sie seien wahr. Solche Fälle erlebe ich immer wieder - einmal an einer Schule in Bayern.

Was ist dort passiert?

Ein Arzt war zu einer Schuluntersuchung da und musste sich hinterher wegen Missbrauchs verantworten. Ich habe mir damals die Aussagen der Kinder genauer angesehen: Wie kamen diese zu Stande? Wie haben sie sich entwickelt? Der Arzt hatte eine raue Stimme und ist wohl recht mürrisch aufgetreten. Die Kinder haben sich erschreckt und sich dann bei einem Sitzkreis mit der Lehrerin gegenseitig aufgestachelt. Auch die Eltern waren voller Sorge und haben stundenlang mit den Kindern über Missbrauch gesprochen und auf sie eingeredet. Am Ende haben alle geglaubt, dass dieser wirklich stattgefunden hat. Ich glaube das immer noch nicht.

Bei vielen Vergewaltigungen steht ebenfalls Aussage gegen Aussage. Wie gehen Sie in einem solchen Fall vor?

Ich hatte mal einen Fall, in dem ein zwölfjähriges Mädchen einen Nachbarsjungen beschuldigt hat. Sie hatte aber wohl freiwillig etwas mit ihm angefangen. Das Problem: Sie war sehr jung, der Altersunterschied sehr groß und die Familie sehr katholisch, der Junge jedoch ein muslimischer Türke. Das war kein böses Mädchen, sie hatte keine böse Absicht, sondern einfach Angst vor ihren Eltern, wollte weiter die brave Tochter sein. Aber das hilft ja nichts - eine Falschaussage bleibt eine Falschaussage.

Wie haben Sie die Aussage überprüft?

Eine Hortleiterin hatte damals geklingelt, als das Mädchen mit dem Jungen in der Wohnung war. Sie hatte ihn aufgefordert zu gehen. Aber das angebliche Opfer hat das bei der Polizei gar nicht erwähnt. Dabei müsste dieser Besuch, wenn wirklich eine Vergewaltigung stattgefunden hätte, doch die Rettung für das Mädchen gewesen sein. So etwas vergisst man nicht. Und dann hat sie paradoxe Dinge geschildert: Sie habe dem Jungen erst eine reingehauen, dann habe sie sich nicht mehr getraut, etwas zu sagen. Ein Kind kann sich so eine Geschichte nicht so gut ausdenken, da stimmen dann etwa die Abläufe nicht mehr. Bei einem Erwachsenen ist es sicher schwieriger herauszufinden, ob er lügt oder nicht. Hundertprozentige Sicherheit gibt es nie. Aber im Zweifel gilt eben: In dubio pro reo.

Rudolf Egg: Die (un)heimlichen Richter. Erschienen bei C. Bertelsmann.

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