Süddeutsche Zeitung

Gericht:Paralleljustiz

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Was passiert, wenn Gemeinschaften so sehr unter sich bleiben, dass sie das Gesetz nicht als bindend betrachten? Wenn das mitten in Deutschland geschieht, im Jahr 2016? Ein Besuch bei einem Prozess in Verden.

Von Alexander Krützfeldt

Kurz bevor die Richter sich setzen, atmet Missery tief durch. Beruhigt sich. Blinzelt. Sie weiß, dass das, was jetzt kommt, über mehr entscheiden wird als über die Frage, ob sie demnächst ins Gefängnis muss. Missery ist ein ruhiges, zierliches Mädchen, Spitzname "Bambi". Sie blickt die Richter nicht an. Ihr Blick wandert zu ihren Eltern, die im Publikum sitzen, sie sind hier die eigentlichen Richter; sie entscheiden über ihr Leben.

Jede Kultur hat ihre Regeln und Riten. Aber was, wenn sich einige davon nicht mit dem deutschen Gesetz vertragen? Wenn Gemeinschaften unter sich bleiben, auch Deutsche, wenn sie jeden Kontakt zur Außenwelt meiden? Was ist, wenn eigene Regeln über denen stehen, die für alle gelten - und die der Staat schützen muss? Gerichte, die ohne Moral entscheiden sollen, sehen sich dann mit Begriffen wie "Ehre", "Reinheit" oder "Männlichkeit" konfrontiert. Für diese Familienregeln hat sich der Begriff der "Parallel- oder Gegenjustiz" etabliert: Sie wird angewendet, wenn geltendes Recht abgelehnt wird, um Streits in Gemeinschaften zu schlichten - aber auch, wenn die Kenntnis über die Gesetze fehlt. Das Bundesjustizministerium hat im Jahr 2014 eine Studie beauftragt, die nahelegt, dass "es sinnvoll erscheint, diesem Bereich besondere Aufmerksamkeit zu widmen".

Dieser Bereich: Das ist die Welt, in der sich auch Missery bewegt. Beim derzeit laufenden Gerichtsprozess in Verden, Niedersachsen, ist sie die Angeklagte. Man kann bei diesem Prozess gut sehen, wie es zugeht in dieser Welt.

Im März dieses Jahres stach Missery ihre Cousine Angela - beide Sinti und Roma, beide einstmals beste Freundinnen - mit vier Messerstichen auf einem Parkplatz nieder. Das bestreitet sie nicht. Es ging um einen Mann: Serrano. Er ist der Ehemann von Angela - und Misserys Onkel, Bruder ihres Vaters. Angela D. überlebte nur knapp, sie erlitt Stiche in den Brustbereich und in die Leber. Stiche, die man gezielt setzt, sagt die Staatsanwaltschaft Verden und wirft der 19-Jährigen vor, ihre Cousine in voller Tötungsabsicht verletzt zu haben. Sie sei in Serrano, ihren Onkel, verliebt gewesen und habe mit ihm eine Affäre geführt. Der Verteidiger von Missery D., Rechtsanwalt Nicolas Alexander Frühsorger, hält dagegen: Serrano habe ihr, Missery, Avancen gemacht - nicht umgekehrt.

In jedem Fall: eine Schande für mindestens eine der beiden Sinti-Familien, die es zu begleichen galt.

Vor dem Prozess hatte es Morddrohungen gegeben, die so ernst waren, dass Missery in der U-Haft geraten wurde, zum Prozess eine schusssichere Weste zu tragen. In der Reihe hinter Misserys Eltern sitzen zwei Polizisten in Zivil, vor der dicken Glasscheibe vier weitere Beamte, die die Familien-Clans in einem Spalier trennen sollten. Einer der Beamten spielt verträumt an seinem Handschuh. Bis auf Misserys Eltern ist niemand gekommen.

"Möchte Ihre Mandantin Einlassungen zur Sache machen?", fragt der Vorsitzende Richter, Joachim Grebe. "Nein", sagt Verteidiger Frühsorger. "Auf keinen Fall. Ihre Eltern sind hier, die Presse." - "Auch nichts Biografisches?" - "Nein." - "Verstehe ich Sie richtig", versucht es der Richter wieder: "Sie will nichts sagen, weil es die Familie oder Öffentlichkeit sonst erfährt?" Der Anwalt nickt. "Wir befürchten", sagt Frühsorger, "dass, wenn Details an die Presse gelangen, es Krieg gibt zwischen den Familien. Wir würden die Öffentlichkeit gerne ausschließen lassen."

Der Richter lehnt ab. Sehr wohl könne man die Öffentlichkeit ausschließen, wenn Missery von sexuellen Handlungen erzählen wollte, denn die Frage lautet ja: Hatten sie und Serrano ein Verhältnis - und wenn ja: Wer hat es begonnen, und wie? Aber nicht generell, dies sei ein öffentliches Gerichtsverfahren.

Missery weint, zieht ihr schwarzes Tuch über den Kopf. An der Innenseite ihres Arms ziehen sich kleine Narben hinauf, von Verletzungen, die man sich selbst beibringt. Das bestätigt der Verteidiger später.

Bei einer Hausdurchsuchung bei den Eltern - in der Hoffnung, Kommunikationsdaten zu bekommen - fand die Polizei nichts. "Es gibt nur die Chat-Protokolle auf den Handys von Angela und Serrano", merkt der Verteidiger an. "Wir wollten die Handys der Eltern ja einsammeln", sagt Annette Marquardt, die Staatsanwältin. "Aber da hieß es: Wir haben kein Telefon." Sie glaubt das nicht, natürlich nicht: Wer hat heute schon kein Telefon.

Als die Sitzung später unterbrochen wird, steht die Staatsanwältin auf, geht um ihren Tisch, setzt sich neben Missery. "Pass auf", sagt sie, "ich kann das so nicht mehr mit ansehen." Sie sagt es laut genug, dass die Pressevertreter es hören können.

"Ich weiß, dass du Angst hast." Sie wisse doch, was los ist. Aber sie müsse reden; ohne Reden ginge es nicht. "Sie hat keine Freunde", sagt der Verteidiger fürsorglich, sie könne doch nirgendwo hin, wenn die Familie sie ausschließe. Aber wenn sie gar nichts sage, erwidert die Staatsanwältin, verstehe man ihre Lage nicht - und könne also auch nichts zu ihren Gunsten finden. Das zeigt Wirkung. "Okay", sagt die 19-Jährige dann. Aber nur Biografisches.

Kulturkreise, die nach eigenen Gesetzen leben, haben eines gemeinsam: ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber der staatlichen Justiz. Bei den Sinti und Roma resultiert das Misstrauen aus ihrer eigenen Geschichte heraus; aus Zeiten, in denen sie verleumdet, verfolgt wurden. Menschen wie Missery, die mit diesem Misstrauen aufgewachsen sind, können später kaum anders, als das Gesetz anzuzweifeln.

Ihr Leben, erzählt sie, sei von Reisen mit dem Wohnwagen durch Deutschland geprägt gewesen. Ihr Lebensmittelpunkt war die Familie, ihre drei Brüder, und Angela, ihre Cousine und beste Freundin. Zeitweise besuchte Missery die Hauptschule. Sie ging kaum hin. Ihr Vater fuhr tagsüber mit dem ältesten Bruder in einem Lieferwagen über das Land, bot sich für kurzfristige Reparaturen an. Wenn die Familie mit den Wohnwagen reiste, und das passierte oft, reiste sie ziellos.

"Es ist wichtig, die kulturellen Besonderheiten der Sinti und Roma zu verstehen", sagt der Verteidiger. Der Konflikt zwischen den beiden sollte familienintern durch ein Duell geregelt werden, es ging um die Ehre. Angela hatte Misserys Vater alles erzählt, in der Hoffnung, er unterbinde das "Treiben". Misserys Vater wiederum habe ihr nicht geglaubt und seiner Tochter gesagt, sie solle "Angela mit einem Messer rasieren" und die Kontrahentin im Gesicht schneiden. Missery aber habe gedacht, ihr blühe dasselbe Schicksal durch Angela, damit sie nicht mehr attraktiv ist für Serrano.

Serrano? Er sagt dem Gericht ab, er ist nicht der Einzige - ein Teil der Zeugen gehört zur Familie und macht vom Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Angela, die Geschädigte und Nebenklägerin, lässt sich durch ihre Anwältin vertrösten: Sie könne nicht kommen, einer Videovernehmung stimme sie zu. Das Gericht findet das befremdlich. Im Vorraum: weitere Beamte. Eine Schleuse, alle Anwesenden wurden durchsucht. "Wir haben ein massives Polizeiaufgebot hier", sagt der Richter. "Wir schützen sie." Man hatte damit gerechnet, dass die Familien mit bis zu 60 Leuten anrücken. Aber niemand ist gekommen.

Warum nicht? "Das", sagt der Verteidiger, "hat vielleicht damit zu tun, dass der Konflikt, so hört man aus der Familie, bereits geklärt ist. Die Sache scheint für beide Teile erledigt zu sein."

Für das Gericht ist es das nicht: Es verhandelt noch bis in den November hinein.

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Quelle:
SZ vom 20.09.2016
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