Genua nach dem Brückeneinsturz:"Es sieht so aus, als hätten es alle gewusst"

Autobahnbrücke Einsturz Genua Italien

Ein Lkw, dessen Fahrer sich noch retten konnte, steht auf der am Vortag eingestürzten Autobahnbrücke Morandi.

(Foto: dpa)

Die Anwohner in Genua können nach dem Einsturz der Brücke noch nicht zurück in ihre Häuser. Auf die Erleichterung der Überlebenden folgen die Fragen und die Wut.

Von Elisa Britzelmeier, Genua

Über Maria Zappias Haus schwebt noch immer die Brücke. Der Teil, der am Morgen danach von ihr übrig geblieben ist. Zappia, bald achtzig Jahre alt, wohnt seit fast vierzig Jahren hier, in Genua, Via del Campasso, unter dem Ponte Morandi. Am Vormittag des Dramas, wie sie es nennt, sei sie zuhause gewesen, erster Stock. Gesehen hat sie nichts. Aber da war ein Riesenlärm, ein unglaublicher Wind von den Fenstern her. Dann der Anruf ihrer Schwester: Die Brücke sei eingestürzt, ob es ihr gut gehe?

Maria Zappia geht es gut, so wie es einer bald Achtzigjährigen eben geht, die die Nacht im Auto geschlafen hat. Dem Haus, in dem sie ihre Wohnung hat, ist nichts passiert. Aber sie darf nicht mehr rein. Am Nachmittag wurde evakuiert, das Gas abgedreht, Vorsichtsmaßnahmen. Es kann sein, dass noch mehr einstürzt. In die Notunterkunft mit all den anderen Leuten wollte Maria Zappia nicht, deswegen also das Auto. 50 Meter und ein Polizei-Absperrband trennen sie nun von ihrem Zuhause. Zusammen mit ihrer Tochter Maria Rita Cimiero wartet sie nun, dass sie wieder in die Wohnung kann, sie halten quasi Wache. Sie haben Angst, dass jemand die vielen leer stehenden Häuser plündern könnte.

Die Tochter war gerade vor dem Ikea-Möbelhaus auf der anderen Flussseite, als die Brücke einstürzte. Sie sah Regen und Staub, die Leute schrien "die Brücke, die Brücke", und sie fragte sich: Welche Brücke? Dann der Gedanke an ihre Mutter. "Ich bin gestern gestorben und wiederauferstanden", sagt Maria Rita Cimiero heute. Sie ist erleichtert, dass ihrer Mutter nichts passiert ist. Aber kurz nach der Erleichterung kamen die Fragen und die Wut. Maria Rita Cimiero zeigt Archiv-Artikel und Fotos aus den Chats auf ihrem Handy. In Genua schicken sie sich nun Nachrichten hin und her und spekulieren. Wusste man nicht schon längst, dass die Brücke baufällig ist? Gab es nicht sogar schon Pläne zur Erneuerung, die dann aber abgelehnt wurden, weil man den Verkehr nicht so lange blockieren wollte? Und hier, auf den Fotos der Brücke vor dem Einsturz - sieht man da nicht schon Risse? Die Tochter sagt: "Es sieht so aus, als hätten es alle gewusst." Sie meint: alle Verantwortlichen. Und das seien unzählige.

"Es ändert sich nie etwas in diesem Land"

Auch Fernando Passeri ist wütend. Traurig, wütend und enttäuscht, sagt er, das graue Hemd hängt über der Hose, die Augen müde, in der Hand trägt er eine leere Einkaufstasche. Er hat die Nacht im Hotel zugebracht, dorthin wurde er von der Notunterkunft aus gebracht. "Es ändert sich nie etwas in diesem Land", sagt er. "Wieso soll man noch wählen, wieso noch Steuern zahlen, wenn uns Politiker so im Stich lassen?" In der Hoffnung auf Neuigkeiten ist er zur Notunterkunft zurückgekehrt. Via Enrico Porro ist seine Adresse, eine der Straßen, über der die Brücke zerbröselt ist, als wäre sie aus Baiser. Sein Haus scheint intakt, wann er es wieder betreten darf, weiß auch er nicht.

632 Menschen mussten ihre Häuser verlassen. Die Notunterkunft ist in einem Gemeindezentrum eingerichtet, 25 Feldbetten in einer Turnhalle, am Morgen schlafen hier nur noch zwei Männer, neben sich Ventilator und Stufenbarren. Sie waren am Katastrophentag lange arbeiten, gegen drei Uhr früh wollten sie heim, doch da war die Polizei, die sie wegschickte. Alle anderen konnten gegen Mitternacht noch in Hotels gebracht werden, sagt einer der Helfer in der Turnhalle. Die allermeisten kamen bei Freunden und Familien unter, hieß es noch am Abend von der Region Ligurien. Glück im Unglück: Viele Bewohner waren ohnehin nicht zuhause. Es ist Ferragosto, Italiens höchster Feiertag. Normalerweise sind an Ferragosto alle am Strand. Die Tage vor jedem 15. August sind aber auch besonders reiseintensiv.

Durch Genua, Hafenstadt, Transitstadt, fahren auch sonst viele durch. Die A10, die über den Ponte Morandi und damit mitten durch die Stadt führt, geht von der Stadt bis an die französische Grenze, nach Ventimiglia, die Stadt, in der viele Flüchtlinge stranden. A10, Autostrada dei Fiori. Dass Italiens Autobahnen blumige Beinamen tragen, wirkt in diesen Tagen fast zynisch. Die Autobahn der Blumen ist nun unterbrochen, "geschlossen, Ausfahrt verpflichtend" heißt es, wenn man sich vom Nordwesten her nähert. Alle Autos werden auf Höhe des Flughafens umgeleitet.

Man lebt hier mit der A10 und ihrer Brücke, seit Jahrzehnten. "Ich hatte sie sogar ein wenig liebgewonnen", sagt Maria Zappia. Den Lärm habe man nicht groß gehört. Angst hatte sie nie, sagt sie. "Ich hätte nie gedacht, dass so etwas passiert." Sie bietet Bonbons an aus ihrer Autotür heraus, etwas anders hat sie ja nicht da. Über ihr ist der Himmel strahlend blau, als wäre nichts passiert. Vom Unwetter ist nichts mehr zu spüren. Aber die Brücke hebt sich grau ab, wie ein Mahnmal. Am Himmel über Maria Zappia fliegen die Hubschrauber, noch immer werden Menschen aus den Trümmern geborgen.

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