Süddeutsche Zeitung

Genitalverstümmelung:"Mütter lassen ihre Töchter beschneiden, weil sie das Beste für sie wollen"

Lesezeit: 3 Min.

Die Zahl der von Genitalverstümmelungen bedrohten Mädchen in Deutschland ist gestiegen. Eine Wissenschaftlerin erklärt: Die Eltern handelten oft im Glauben, das Richtige zu tun.

Interview von Susanne Klein

SZ: Am Dienstag haben Sie bekanntgeben, dass 13 000 in Deutschland lebende Mädchen von Genitalverstümmelung bedroht sind - 4000 mehr als vor einem Jahr. Wie kommt es zu dieser Zahl?

Charlotte Weil: Der hohe Anstieg geht vor allem auf Flüchtlinge aus Eritrea, Somalia und dem Irak zurück. 2700 der gefährdeten Mädchen stammen allein aus Eritrea.

Wie können Sie das so genau wissen?

Es ist eine Hochrechnung. Das Statistische Bundesamt weiß, wie viele Mädchen unter 18 aus Ländern, in denen Genitalverstümmelung praktiziert wird, hier leben. Auf diese Zahlen rechnen wir die Quote der Betroffenen im jeweiligen Land an, in Somalia etwa 98 Prozent, in Ägypten 87 Prozent. Und wir berücksichtigen den Zeitfaktor: In der zweiten Migrantengeneration sind aufgrund der kulturellen Anpassung nur noch halb so viele Mädchen betroffen.

Ist nicht in Ägypten die Beschneidung längst verboten?

Ja, wie in vielen Ländern. Das Gesetz ist ein wichtiges Signal, aber ohne Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit ist es nutzlos.

Wie ist die rechtliche Situation hier in Deutschland?

Weibliche Genitalverstümmelung ist hier seit 2013 ein Straftatbestand, dafür haben wir lange gekämpft. Und seit 2015 ist sie auch ein Auslandsstraftatbestand. Wenn also Eltern ihre Tochter in den Ferien im Senegal beschneiden lassen, kann das in Deutschland geahndet werden.

Welche Strafe droht?

Bis zu 15 Jahre Haft. Aber aus Deutschland ist uns kein bewiesener Fall bekannt. In Paris ist jedoch eine Beschneiderin angeklagt und verurteilt worden. Auch in anderen europäischen Communities gehen ältere Frauen diesem Beruf nach.

Welche Schuld trifft die Eltern?

Man muss wissen, dass Mütter ihre Töchter beschneiden lassen, weil sie das Beste für sie wollen. In den betreffenden Kulturen können Mädchen sonst nicht heiraten, vielfach werden sie sogar verstoßen. Daher sind wir auch dagegen, bedrohte Mädchen direkt von ihrer Familie zu trennen.

Was tun Sie stattdessen?

Einzelne Mitglieder der Communities so ausführlich schulen, dass sie ihre eigenen Leute aufklären können. Denn Außenstehenden ist dieser Zugang meist verschlossen. Unser Projekt heißt "Change Plus" und wird von der EU gefördert.

Wie erfolgreich ist das Programm?

Unsere "Change Plus"-Mitarbeiter geben sehr positive Rückmeldungen. Sie erzählen von Frauen, die ihre Töchter auf keinen Fall beschneiden lassen wollen. Oder die es bei älteren Töchtern noch zugelassen haben, bei den jüngeren aber anders entscheiden. In der somalischen Community fällt es ihnen allerdings schwer, das Thema auf den Tisch zu bringen. Dort herrscht ein ganz starkes Tabu. Die Somalier leben unsicher, in Unterkünften, zum Beispiel irgendwo in Brandenburg, ihr Status ist ungeklärt, sie haben Angst, sie könnten sich schaden, wenn sie über das Thema reden. Bei einer Community, die schon gut in Deutschland angekommen ist, ist das wesentlich leichter.

Was passiert bei einer Genitalverstümmelung?

Es gibt unterschiedliche Formen. Das beginnt beim Wegschneiden der Klitorisvorhaut, geht weiter mit der Klitoriseichel, den inneren Schamlippen, den äußeren Schamlippen, und reicht bis hin zum Zunähen der übrig gebliebenen Haut, so dass nur noch ein kleines Loch bleibt, durch das Urin und Menstruationsblut abfließen können. Diese letzte und schwerste Form haben weltweit etwa 15 Prozent der betroffenen Frauen erlitten.

An welchen Folgen leiden die Mädchen?

Das reicht von Infektionen, Fistelbildungen, Inkontinenz und Problemen bei Geburten bis hin zum Tod. Gravierend sind auch die psychischen Folgen. Nach jeder Genitalverstümmelung kann es zu Panikattacken, Selbstwertproblemen und sexuellen Störungen kommen, auch Eheprobleme sind möglich.

Was sind die Gründe für solche Verstümmelungen?

Der absolute Ursprung ist ein patriarchalischer Mechanismus, um die Sexualität der Frau zu unterdrücken, das kann man ganz klar so sagen. Über die Jahrhunderte haben sich von Gruppe zu Gruppe unterschiedliche Begründungsmuster entwickelt. Etwa die kulturelle Tradition, die gewahrt werden soll, schon allein, um die Vorfahren zu achten. Oder die Beschneidung gilt als Reinheitsritual. Oder das Zunähen soll die Jungfräulichkeit und die eheliche Treue garantieren. Da, wo nur beschnittene Mädchen heiraten können, gibt es auch wirtschaftliche Argumente. Und dann sind da noch die Mythen. Etwa, dass man stirbt, impotent oder zeugungsunfähig wird, wenn man eine Klitoris berührt. Teilweise gibt es auch religiöse Gründe.

Wie erfahren Sie davon, dass Mädchen akut bedroht sind?

Meistens rufen Lehrerinnen, Sozialarbeiterinnen oder Ärztinnen an, die einen konkreten Anhaltspunkt haben. Manchmal melden sich auch Mütter, deren Mann die Beschneidung will. Wir versuchen dann einen Kontakt zu Beratungsstellen zu vermitteln. Erhärtet sich der Verdacht, geht es zum Jugendamt. Das könnte etwa mit den Eltern vereinbaren, dass es nicht zu einer Genitalverstümmelung kommt.

Was können Schulen tun?

Ihre Lehrer zur Fortbildung schicken, damit sie mit dem Thema umgehen lernen. Allerdings bekommen wir schon viel mehr Anfragen, als wir bewältigen können.

Welche Forderung leiten Sie daraus ab?

Sinnvoller wäre es, wenn wir als Multiplikator die Ausbilder schulen, die dann in die Schulen gehen. Dabei müsste uns das Bundesfamilienministerium unterstützen. Und wir brauchen dringend Beratungsstellen, denn die Mädchen wissen nicht wohin, und man kann sie nirgendwohin weitervermitteln. Und noch ein Mangel macht uns zu schaffen: Weibliche Genitalverstümmelung ist weder Thema im Medizinstudium noch in der Hebammenausbildung. Es gibt sehr viele Ärzte, die noch nie davon gehört haben. Wie will man die Gefährdung erkennen oder kompetent handeln, wenn man keine Ahnung hat?

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