Süddeutsche Zeitung

Kriminalität:Vom Entführer zum Räuber

Die niederländische Polizei hat allem Anschein nach den Reemtsma-Entführer Thomas Drach festgenommen. Er soll an drei brutalen Raubüberfällen auf Geldboten beteiligt gewesen sein.

Von Ralf Wiegand, Hamburg

Ist er das? Ist der Mann am Steuer eines silbernen Audis, weißes Oberteil, weiße Kapuze, weiße Handschuhe, das halbe Gesicht hinter der Sonnenblende, einer der bekanntesten Verbrecher Deutschlands? Andere Bilder, mit denen die Polizei im Sommer 2020 eine öffentliche Fahndung einleitete, zeigen denselben Mann, wie er einen silbernen Koffer trägt. Ist das eben jener Thomas Drach, der am 24. März 1996 gemeinsam mit drei anderen Männern den Hamburger Tabakkonzern-Erben Jan Philipp Reemtsma entführte, eine Millionensumme erpresste, 1998 in Argentinien festgenommen wurde, dafür fast 15 Jahre in Haft saß - und jetzt mit Raubüberfällen seinen Lebensunterhalt verdiente?

Die Kölner Staatsanwaltschaft geht offenbar davon aus: Sie hatte beim Amtsgericht Köln einen europäischen Haftbefehl erwirkt, der am Dienstag "nach sehr aufwendigen, zum Teil verdeckt geführten Ermittlungen" vollstreckt wurde, wie die Behörde mitteilte. Der am frühen Morgen in Amsterdam von der niederländischen Polizei verhaftete Mann ist angeblich Thomas Drach.

Der heute 60-Jährige wurde nach Informationen der Süddeutschen Zeitung von Spezialisten auf Videos identifiziert. Die Staatsanwaltschaft bestätigte lediglich die Festnahme eines aus dem Rheinland stammenden Deutschen ohne festen Wohnsitz, nach dem europaweit gefahndet worden sei.

Ihm wird nicht nur die Tat vom 9. November 2019 zur Last gelegt, von der die Bilder des weißen Kapuzen-Mannes stammen. Damals soll er einen Geldboten vor dem Ikea-Möbelhaus im Frankfurter Stadtteil Nieder-Eschbach überfallen haben. Er wird auch verdächtigt, ähnliche Überfälle am Ikea in Köln-Godorf (24. März 2018) und am Flughafen Köln/Bonn (6. März 2019) begangen zu haben. Bei diesen Taten soll er mit einem beziehungsweise zwei anderen Männern zusammengearbeitet haben. Der konkrete Vorwurf lautet daher auf gemeinschaftlichen schweren Raub in drei Fällen sowie in einem Fall auf Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz: Bei dem Überfall am Flughafen Köln/Bonn soll er ein Sturmgewehr AK 47 benutzt haben, hier und in Frankfurt waren zwei Geldboten durch Schüsse schwer verletzt worden.

Die Videos dieser Tat haben die Kölner Fahnder der Ermittlungsgruppe Airport angeblich auf die Spur des Fluchtfahrzeugs gebracht und die Fährte in die Niederlande gelegt. In allen drei Fällen waren die Täter mit in den Niederlanden gestohlenen und mit falschen Kennzeichen ausgestatteten Autos geflüchtet, hatten diese später angezündet und sich mit anderen Fahrzeugen davongemacht.

Den Namen Drach bestätigte die Ermittlungsbehörde mit Verweis "auf die andauernden Ermittlungen auch zu Mittätern und Zeugen" nicht; außerdem seien, so ein Sprecher der Staatsanwaltschaft auf SZ-Anfrage, die "Voraussetzungen für eine identifizierende Verdachtsberichterstattung nicht gegeben".

30 Millionen Mark Lösegeld

Thomas Drach ist der Kopf in einem der größten Entführungsfälle der Bundesrepublik Deutschland. 33 Tage lang hatten er und drei Komplizen im Jahr 1996 den Hamburger Sozialwissenschaftler und Publizisten Jan Philipp Reemtsma in ihrer Gewalt. Über mehrere gescheiterte Versuche, das Lösegeld zu übernehmen, steigerten sie ihre Forderungen von 20 auf später 30 Millionen Mark und verschwanden nach der Freilassung ihres Opfers mit der Beute. Drach wurde 1998 in Argentinien gefasst, ihm wurde vor dem Hamburger Landgericht der Prozess gemacht. Drach gestand, an der Entführung Reemtsmas beteiligt gewesen zu sein, er wurde zu 14 Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt.

Das Lösegeld, ausgezahlt in D-Mark und Schweizer Franken, blieb aber verschwunden. Drach soll auf seiner Flucht durch Südamerika auf großem Fuß gelebt haben, ein Teil der Beute dürfte durch Verluste bei der Geldwäsche aufgezehrt worden sein, auch Freunde und Verwandte sollen sich bereichert haben. Thomas Drach hatte offenbar seinen Bruder im Verdacht, das Geld an sich gebracht zu haben - 2002 wurde dieser wegen Geldwäsche zu einer langen Haftstrafe verurteilt. 2013, im Jahr von Drachs Haftentlassung, fanden private Ermittler ein Gelddepot in Uruguay mit knapp 500 000 Dollar - seitdem gilt der Millionen-Erpresser unter Ermittlern als bankrott, wenngleich wohl nie restlos aufgeklärt werden wird, wo das Geld geblieben ist.

Die brutale Entführung von damals beschäftigt die Familie Reemtsmas bis heute. "Ich war ihm auf Leben und Tod ausgeliefert, meine Familie war unter seinem Kommando, abhängig von seinen Launen", sagte Jan Philipp Reemtsma im Prozess über Drach. Die Entführer hatten ihn in einem Keller eines Hauses in der Nähe von Bremen angekettet.

Reemtsmas Sohn Johann Scheerer beschrieb 2018 in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung das Trauma der Entführung seines Vaters. Er war damals 13 Jahre alt. "Ich kann bis heute nachts kein Babyfon im Schlafzimmer ertragen", sagte Scheerer, "weil mich das Knacken und Fiepen zu sehr an das Knacken in der Leitung und das kreischende Geräusch des Stimmverzerrers erinnert, wenn die Entführer bei uns anriefen." Seiner Geschichte hat er sich in inzwischen zwei Büchern genähert.

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