Dass Wrestling ein echter Sport ist, würden seine Fans nie behaupten. Nein, sagen sie stolz, vielmehr handelt es sich der Definition nach um "Sports Entertainment" - eine Definition übrigens, die sich die Chefs der wichtigsten Wrestling-Organsation WWF wie so vieles einst einfach selbst ausdachten.
Auch Tim Wiese stand immer im Ruf, dass ihm Entertainment und Sport in etwa gleich wichtig waren. Und auch er wurde ein bisschen missverstanden als Torwart seines Vereins Hoffenheim, genau wie die Wrestling-Kämpfer, die mit geschminkten von mal geschauspielerten, mal echtem Schmerz verzerrten Gesichtern durch den Ring geprügelt werden und trotz all ihrer Anstrengungen nicht als Sportler gelten, sondern als Clowns.
An diesem Samstagabend könnten Wiese und das Wrestling erstmals zusammenfinden, bei einem Kampf-Tag der WWE (World Wrestling Entertainment), wie die WWF heute heißt, in Frankfurt. Dort soll der ehemalige Fußballer zumindest einen kurzen Auftritt haben. Er verhandelt mit der Organisation - besser gesagt: dem börsennotierten Unternehmen - ob er tatsächlich in Zukunft als Wrestler kämpfen wird. Das wäre ein riesiger PR-Erfolg für die WWE in Deutschland. Wiese hat sich Muskelberge antrainiert, sein Kampfgewicht liegt bei etwa 120 Kilo.
"Checklisten" fürs Kampfgeschehen
Damit er sich in seiner neuen Branche gleich auskennt, hier einige wichtige Begriffe aus der Welt des Wrestlings:
Ein Kampf endet durch Aufgabe oder den Pin, für den ein Kämpfer den anderen mit den Schultern solange auf dem Boden hält, bis der Ringrichter bis drei gezählt hat.
Die entscheidende Frage beim Wrestling ist aber natürlich: Was ist echt, was nicht?
Der Ausgang der Kämpfe ist meist vorherbestimmt, geschrieben werden die Erzählstränge von den Bookern. Sie sind die Drehbuchautoren, die dafür zuständig sind, welcher Kämpfer wen herausfordert, wer mit wem paktiert und vor allem, wer wen wie auf die Fresse haut. Denn jede der regelmäßig ausgestrahlten Fernsehübertragungen ist wie die Episode einer Seifenoper, nur eben mit halbnackten, geschminkten Männern (und ein paar leichtbekleideten Frauen).
Wiese sollte sich auf wochen- oder monatelange Fehden einstellen, die in emotionaler Versöhnung vor der Kamera enden können - oder in einem dramatischen Kampf, der die Fehde endgültig beilegen soll. Hinzu kommen ständig wechselnde Allianzen zwischen den Wrestlern. Wiese braucht also auch gewisse diplomatische Fähigkeiten.
Dass die Booker beim Schreiben der Geschichten "Checklisten" abarbeiten, zeigen geleakte Drehbücher für Veranstaltungen. So sollten sie an einem abendfüllenden Veranstaltung mit mehreren Kämpfen zumindest einen "Cliffhanger" in einen Erzählstrang einbauen, der die Zuschauer heißmacht auf die nächste Veranstaltung und einen "Holy Shit Moment" - was wohl so etwas wie die überdrehte Wrestling-Version eines Aha-Erlebnisses ist, eine besonders überraschende Wendung einer Geschichte oder ein besonders gewagtes Kampfmanöver.
Allerdings haben die Vorgaben der WWE ihre Grenzen. Nicht jeder Schritt eines Kampfes ist choreographiert. Die Booker geben zwar oft die gegenseitigen Provokationen vor dem Kampf vor sowie dessen Ausgang. Während des Kampfes improvisieren die Kämpfer jedoch das meiste, vielleicht mit Ausnahme besonders spektakulärer oder gefährlicher Griffe. Bevor Wiese um Kämpfen in den Ring steigt, müsste er also eigentlich erst ein längeres Trainingsprogramm absolvieren, schließlich soll das Ganze keine Blamage werden.
Das ist schwieriger, als es klingt: Besonders bei den halsbrecherischen Würfen, bei denen sie sich gegenseitig hochheben und aus zwei Metern Höhe auf die Matten krachen lassen, muss auch der augenscheinlich "passive" Kämpfer aktiv mithelfen, hochgehoben oder geschlagen zu werden - schließlich muss er möglichst effektvoll umfliegen oder sich vor Schmerzen krümmen.
Das Publikum hat schließlich Eintritt gezahlt. Damit das im Ring nicht völlig stümperhaft wirkt, müssen beide vor dem Kampf gut kommunizieren. Manchmal muss im Ring Blut fließen, dann setzen Wrestler auf Blading: Sie ritzen sich während des Kampfes unauffällig mit einer Rasierklinge die Stirn an. Das sieht brutal aus, verheilt aber angeblich schnell.
Mal Held, mal Bösewicht
Gefährlich ist Wrestling trotzdem, vor allem langfristig. Viel mehr Profis sterben deutlich früher als der Schnitt der Gesamtbevölkerung, hat das Statistikportal 538.com anhand einer Stichprobe errechnet. Und sie sterben demnach auch deutlich früher als ehemalige Sportler der großen US-Profiligen wie der National Football League, die als besonders brutal gilt. Mutmaßliche Gründe für den frühen Tod vieler Kämpfer: enorme körperliche Belastung, Doping, Anabolikamissbrauch.
Geht Wiese in die WWE, stellt sich als erstes die Frage nach seinem Gimmick. So nennt sich die Rolle, die die Kämpfer spielen: ihre - erfundene - Hintergrundgeschichte (Wo kommt er her? Warum ist er, wie er ist?), ihre markantesten Kampftechniken und natürlich ihr unverwechselbares Outfit. Bei Wieses Vergangenheit als Fußballtorwart dürfte es den Schreibern nicht schwerfallen, auf passende Ideen zu kommen.
Ähnlich wie in "Verbotene Liebe" oder anderen Vorabendserien gibt es auch im Wrestling Helden und Bösewichte. Die Guten heißen Faces, die Bösen Heels. Berühmtester Face ist wohl Hulk Hogan, der auch nach seiner Wrestling-Karriere seinen Fernsehruhm im Trash-TV mehrte.
Aber im Wrestling ist alles möglich, da ist sozusagen das ganze Jahr über DFB-Pokal. Deshalb spielt der Turn eine wichtige Rolle - dabei wird ein Guter plötzlich zum Bösen oder andersherum. Für Feinschmecker gibt es manchmal einen Double Turn: Während ein und desselben Kampfes wird Face zum Heel und ein Heel zum Face. Sonst wird das Ganze am Ende noch langweilig.
Das Unehrenhafteste, was Wiese blüht, ist, Jobber zu werden. Das sind vergleichsweise unbekannte Kämpfer, die immer verlieren müssen, damit die berühmten Kämpfer Siege ansammeln. Eine Variante ist der Edeljobber. Er darf ab und zu einen Kampf gewinnen, ist aber meistens auch nur dazu da, sich von der Prominenz möglichst spektakulär verprügeln zu lassen. Aber dafür würde die WWE einen Promi wie Tim Wiese wohl kaum aufnehmen.