Fremdsprachen-Akzent-Syndrom:"Du klingst wie eine Chinesin"

Es hört sich an wie ein Märchen: Eine Engländerin spricht nach einem Migräne-Anfall mit starkem chinesischen Akzent - ohne dass sie je in dem Land gewesen wäre.

Marten Rolff

Die Geschichte von Sarah Colwill klingt wie ein modernes Märchen. Wie diese Erzählungen von Menschen, die zum Beispiel riesige Vogelspinnen in der Bananenkiste ihres Gemüsehändlers entdeckt haben sollen. Man erzielt mit diesen Mythen oft einen Effekt, kann aber dann als Quelle nur den Cousin eines Nachbarn angeben. Sarah Colwill dagegen hat kein Problem mit ihrer Quelle. Sie hat das Problem, dass ihre Geschichte wahr ist.

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Die sehr seltene Störung Fremdsprachen-Akzent-Syndrom (FAS) kann nach einem Schlaganfall oder einem Schädel-Hirn-Trauma auftreten.

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"Eine richtige Quäkstimme"

Die IT-Managerin aus dem südenglischen Plymouth leidet seit zehn Jahren unter extremer Migräne. Im März erlitt die 35-Jährige einen so schweren Anfall, dass man sogar einen Krankenwagen rief. Und als die Patientin wieder ansprechbar war, hatten die Ärzte Mühe, sie zu verstehen: Sarah Colwill sprach zwar immer noch einwandfreies Englisch, nun aber mit starkem chinesischen Akzent.

Nicht nur die Intonation einzelner Wörter, sondern die gesamte Sprachmelodie sowie ihre Stimmlage waren anders: "Ich spreche plötzlich viel höher", sagte Colwill der britischen Zeitung Daily Mail, "ich habe eine richtige Quäkstimme." Wie schlimm die Veränderung war, wurde Sarah Colwill wohl erst klar, als ihre Stieftochter sie nicht am Telefon erkannte: "Du klingst wie eine Chinesin", habe die Tochter entgeistert erwidert. "Dabei bin ich noch nie in China gewesen", erzählte die 35-Jährige weiter.

Neurologen haben die sehr seltene Störung Fremdsprachen-Akzent-Syndrom (FAS) getauft. Eine Erkrankung, die nach einem Schlaganfall oder einem Schädel-Hirn-Trauma auftreten kann und bei der Patienten unter - sehr individuellen - Artikulationsschwierigkeiten leiden, die Außenstehende als fremdsprachigen Akzent wahrnehmen, obwohl das Muster von tatsächlichen Akzenten abweicht.

Wenig erforscht

Ärzte machen minimale Verletzungen in der linken Hirnhälfte für FAS verantwortlich, aber die Störung ist wenig erforscht. Migräne galt bislang nicht als Ursache, doch waren die Anfälle bei Colwill so stark, dass die Erweiterung ihrer Blutgefäße bereits zuvor schlaganfallähnliche Symptome wie etwa Lähmungen ausgelöst hatte.

Weltweit sind bislang nur 60 FAS-Fälle dokumentiert. Besonders häufig scheinen Frauen betroffen zu sein. Diese sind wegen des ungewöhnlichen Charakters der Störung oft einer großen psychischen Belastung ausgesetzt.

Als besonders spektakulär gilt der Fall der Norwegerin Astrid L., die 1941 bei einem deutschen Bombenangriff von einem Granatsplitter am Kopf verletzt wurde. Nun sprach sie plötzlich ein Norwegisch, an dem misstrauische Nachbarn einen heftigen deutschen Akzent zu erkennen glaubten; daher wurde Astrid L. der Spionage verdächtigt.

Grammatikfehler russischer Englischschüler

Linda Walker aus dem nordenglischen Newcastle hingegen sagte 2006 der BBC, sie sei es leid, dass wohlmeinende Mitbürger ihr dauernd ungefragt den Busfahrplan erläutern wollten, weil sie sie für eine Ausländerin hielten. Die 60-Jährige hatte nach einem Schlaganfall eine Intonation, die manche als jamaikanisch, andere als slowakisch gefärbtes Englisch identifizierten.

Noch härter aber traf es Cindy Romberg aus dem US-Bundesstaat Washington, die vor zwei Jahren wegen eines Nackenproblems einen Chiropraktiker aufsuchte. Nach dem Termin hatte die Amerikanerin nicht nur einen russischen Akzent, sie machte auch Grammatikfehler, wie sie für russische Englischschüler typisch sind. Das kanadische Journal of Neurological Sciences beschrieb in einer Ausgabe zum Thema FAS zudem Fälle, bei denen die Sprache von Patienten plötzlich die dialektale Färbung einer anderen Region ihres Landes angenommen hatte.

Heilungschancen unklar

Sarah Colwill sagt, dass sie ihre chinesisch klingenden Sprachprobleme zuerst mit Humor genommen habe. Doch seit Bekannte sie am Telefon für eine Spaßanruferin und Fremde "für etwas dumm" halten, empfinde sie die Störung als Albtraum. In welchen Fällen FAS heilbar ist, weiß man nicht genau. Die IT-Spezialistin hat jetzt einen Sprachtrainer und steht in Kontakt mit Spezialisten aus Oxford. Die Medienanfragen, mit denen Colwill "bombardiert" wird, regelt eine Agentur.

Zerschlagen hat sich indes die Hoffnung, die weltweite Aufmerksamkeit würde sich auf eine kroatische Schülerin lenken, die Mitte April aus einem Koma erwacht sein und plötzlich fließend Deutsch gesprochen haben soll. Die Meldung war offenbar wirklich ein modernes Märchen.

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