Missbrauchsprozess:In den Fängen von "Karlchen"

Beginn Prozess um jahrelang verschwundene Maria

Der Angeklagte (von einem Ordner verdeckt) und das mutmaßliche Opfer, hier gemeinsam mit der Mutter im Gerichtssaal. Maria H. war erst 13 Jahre alt, als sie mit einem Jahrzehnte älteren Mann nach Italien flüchtete.

(Foto: Patrick Seeger/dpa)
  • Vor dem Landgericht in Freiburg ist Bernhard H. wegen sexuellen Missbrauchs in mehr als 100 Fällen und Kindesentzugs angeklagt.
  • Der 58-Jährige war im Jahr 2013 mit einem damals 13 Jahre alten Mädchen nach Italien geflüchtet. Dort lebte sie fünf Jahre mit ihm zusammen, ohne jeden Kontakt zu ihrer Familie.
  • Der Prozess findet größtenteils unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, Ende Juni könnte ein Urteil fallen.

Von Max Sprick, Freiburg

Auf den Ordner, den sich Bernhard H. vor sein Gesicht hält, hat er ein Foto geklebt, darauf zwei Hände, die ein Herz formen, vor einem Sonnenuntergang. Hinter dem Ordner hört man H. laut schluchzen.

Zum Prozessauftakt gegen den 58-Jährigen vor dem Freiburger Landgericht haben sich ein halbes Dutzend Kamerateams vor H. positioniert, das Interesse an seinem Fall ist groß, weil das, was ihm vorgeworfen wird, deutschlandweit Schlagzeilen gemacht hat: 2013 soll er mit der damals 13-jährigen Maria H. verschwunden sein, sie davor und danach mehrfach sexuell missbraucht haben, ehe sie im vergangenen Herbst, nach mehr als fünf Jahren ohne Lebenszeichen, plötzlich wieder auftauchte. Sie war abgehauen aus Licata im Süden Siziliens, wo die beiden seit dem Spätherbst 2013 gelebt hatten. Erst im Zelt, dann in einer einfachen Baracke.

Als die Kameras den Gerichtssaal verlassen, sehen sich Maria H. und Bernhard H. zum ersten Mal wieder. Er nimmt den Ordner vom Gesicht, kneift seine Augen zusammen und schaut sie direkt an. Ihm gegenüber, ein paar Meter entfernt, blickt Maria H. auf den Boden.

108 Mal soll H. sich an ihr sexuell vergangen haben. Zum ersten Geschlechtsverkehr sei es gekommen, da war Maria zwölf Jahre alt, liest Staatsanwältin Nicola Nowak aus ihrer Anklage vor. Das Mädchen habe nach ausbleibender Periode befürchtet, schwanger zu sein. Bernhard H. habe sich gewünscht, dass sie es ist.

Er gab sich als 14-Jähriger aus

Nowak zitiert detailreich aus Chatnachrichten, die der Angeklagte dem Mädchen schickte, es geht um Penisse, Scheiden und Sperma. Maria H., schulterlanges Haar, grün-weiß karierte Bluse, hört regungslos zu. Bernhard H. liest die Anklage auf seinem Platz mit, immer wieder schüttelt er den Kopf.

Die beiden hatten sich in einem Chatroom kennengelernt, in dem er sich damals als 14-Jähriger namens "Karlchen" ausgab. Seine Ehefrau kommt dahinter und zeigt ihn an. Auch Maria H.s Mutter kommt dahinter, nimmt ihrer Tochter das Handy weg und verbietet ihr den Kontakt zu H. Der schenkt Maria ein neues Smartphone, damit sie heimlich weiter kommunizieren können.

Ab Januar 2012 fährt er regelmäßig aus seinem nordrhein-westfälischen Heimatort Blomberg nach Freiburg, trifft sich mit ihr im Hotel oder in seinem Auto. Als Maria H. merkt, dass ihre Mutter Verdacht schöpft und die Polizei rufen will, entschließt sie sich, mit Bernhard H. abzuhauen. Nach Polen mit dem Auto, von dort mit dem Fahrrad nach Italien. Über die Slowakei, Ungarn und Slowenien, immer an der Adriaküste entlang. Ohne sich je wieder bei ihrer Familie zu melden.

Neben sexueller Übergriffe ist Bernhard H. wegen Kindesentzuges angeklagt, ihm droht eine langjährige Haftstrafe. Staatsanwältin Nowak sieht zudem die formellen Voraussetzungen für eine anschließende Sicherungsverwahrung gegeben, weil H. weiterhin eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen könnte. Ob das so ist, wird nun vor Gericht unter Ausschluss der Öffentlichkeit entschieden. Intime Details sollen intim bleiben.

Er redet und redet

Doch Bernhard H. wird sich äußern, das tut er gleich kund. "Sie können mich fragen, was Sie wollen", sagt er zum Vorsitzenden Richter Arne Wiemann. Der fragt dann auch gleich ziemlich viel zur Lebensgeschichte des Angeklagten. Und Bernhard H. redet. Er sitzt lässig auf seinem Stuhl, zum Richter gewandt, zwirbelt seinen grauen Dreitagebart oder streicht sich über die Halbglatze, während er so viel redet, dass der Richter ihn mehrfach bitten muss, nicht so viele Details zu erzählen.

Von der schwierigen Kindheit mit dem prügelnden Onkel, von den schweren Arbeitsunfällen, die einen Abschluss der Tischlerlehre unmöglich machten. Vom Bruder, der in Peru ermordet worden sein soll, von den kurdischen Nachbarn, die drohten, ihn umzubringen - weshalb er in die rechtsextreme Partei "Republikaner" eintrat, in der er es zum Landesschatzmeister brachte. Und von seiner Ehe, die eigentlich von Anfang an nicht funktionierte, obwohl H. ein Haus kaufte, es renovierte und nach der Geburt seiner ersten Tochter 1992 keinen Alkohol mehr trank.

Zwischendurch versagt H. die Stimme, wenn er von selbst erlebtem sexuellem Missbrauch erzählt oder davon, wie er "die ganze Stadt zusammengeschrien" habe, als Maria ihn verlassen hatte. Zwischendurch macht er aber auch Witze, über die Mutter seiner damaligen Freundin, die auf ihn gestanden habe oder über die Möbel, die er im Streit mit seiner Ehefrau anzustecken drohte.

"Die sozialen Medien sind voll von mir"

Dann fragt Richter Wiemann: "Unabhängig davon, wie dieses Verfahren für Sie ausgeht, wie stellen Sie sich Ihre Zukunft vor?" H. antwortet erst breit lächelnd: "Gute Frage!" Dann sagt er, in Deutschland könne er wohl nicht mehr leben. "Ich bin ja unheimlich bekannt, die sozialen Medien sind voll von mir." Stattdessen wolle er zurück nach Italien, irgendwo bei Rom habe er auf seiner Reise ein Kloster gefunden, zu dem er noch immer Kontakt hält. "Die beten jeden Tag für mich."

Und als müsste Bernhard H. all seinen Erzählungen am Ende noch ein besonderes Schlusswort anfügen, sagt er schließlich: "Ich weiß nicht, wie das mit Maria weitergeht", kurze Pause, "aber meine Arme für sie werden immer offen sein." Maria H. würdigt ihn keines Blickes.

"Wow!", sagt ihre Mutter Monika B. später dazu. "Das ist doch alles einstudiert." Genau so habe sie sich den Mann vorgestellt, der ihr ihre Tochter nahm. Als Mann ohne Unrechtsbewusstsein, der sich als Opfer sehe, Schuld hätten nur die anderen.

Sieben Prozesstage sind angesetzt, am 28. Juni könnte ein Urteil fallen. "Ich hoffe auf Sicherungsverwahrung", sagt Marias Mutter. Nicht als Bestrafung. "Sondern weil ich mir nicht vorstellen will, dass irgendwann meine Enkelin ins Internet geht und da auch Bernhard H. sein könnte."

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