Süddeutsche Zeitung

Frauen in der italienischen Mafia:Der schwarze Schleier ist zerrissen

Lange galten die schwarz verschleierten Ehefrauen sizilianischer Mafiosi als deren Besitz, konnten nicht einmal als Komplizinnen angeklagt werden. Doch inzwischen hat die Emanzipation auch Süditalien erreicht. Einige Frauen sind zu vollwertigen Clan-Mitgliedern avanciert - und andere bekämpfen couragiert das kriminelle System.

Ein Gastbeitrag von Leoluca Orlando

Die Mafia, einfach so, ohne ein Beiwort - die gibt es nicht. Die Mafia braucht notwendigerweise eine Identität, ein Wertesystem, worauf sie bauen, das sie pervertieren und zur Grundfeste eines kriminellen Gefüges kultureller, politischer, wirtschaftlicher und religiöser Macht machen kann. Den Dieb, schlicht und einfach, den gibt es sehr wohl. Es ist kein Unterschied, ob der Dieb Schwede ist oder Franzose. Dieb ist Dieb. Der Dieb oder Räuber will kein Machtsystem schaffen. Er will sich Geld und Gut greifen und dabei ungeschoren davonkommen.

Der Mafioso dagegen muss über ein entsprechendes Äußeres, eine Visage verfügen. Er lebt von Sitten und Wertvorstellungen, in Sizilien von sizilianischen, in Russland von russischen, in China von chinesischen. Ausgehend von meiner Lebenserfahrung in Palermo habe ich die Mafia als "identitätstragende Kriminalität" definiert.

Auch das perverse Treiben der baskischen Terroristen oder das der katholischen Nordiren lässt sich als identitätsverbürgende Kriminalität bezeichnen. Diese Kriminellen bedienen sich der jeweiligen kulturellen Identität und pervertieren sie; das Gleiche tun die islamistischen Terroristen, die die großartige islamische Kultur missbrauchen, verfälschen und zugrunde richten. Oder der italienisch-deutsche Nazifaschismus, durch den die deutschen und italienischen Kulturwelten grauenvoll instrumentalisiert wurden.

Die Mafia-Bosse und Terroristen aller Kulturen sind also identitätsvermittelnde Kriminelle. Sie spielen sich als unerbittliche Verteidiger einer Kultur und Identität auf, um sie für ihre niederträchtigen Zwecke zu missbrauchen. So schaffen sie ein kriminelles Machtsystem.

Verhältnis von Frauen und Mafia als Spiegel der Kultur

Unter dieser Prämisse lässt sich behaupten: Das Verhältnis der sizilianischen Frauen zur sizilianischen Mafia spiegelt auf gewisse Weise das der Frauen zur sizilianischen Identität und Kultur im Allgemeinen wider. Ebenso beschaffen ist das Verhältnis der Frauen zur russischen oder chinesischen, baskischen oder nordirischen Identität und Kultur, zur islamischen, italienischen oder deutschen Kultur.

Frauen galten in der sizilianischen Kultur immer schon als Objekt im Besitz zuerst der Eltern, dann des Ehemanns. Dieses Besitzverhältnis gründete traditionell auf der totalen Herrschaft über Leib und Leben, es ist war der Überzeugung geschuldet, dass Grad und Intensität eines solchen Besitzes den Maßstab des wichtigsten der traditionellen sizilianischen Werte darstellen: der Ehre. So war es bis vor wenigen Jahrzehnten.

Dann endlich setzte sich eine Frau - Franca Viola - zur Wehr. Sie weigerte sich nach ihrer Vergewaltigung Ende 1965 durch einen Mafiaburschen, eine so genannte Mussehe mit ihrem Schänder einzugehen, um so die Schmach von ihrer Familie zu nehmen.

Ihr Aufbegehren führte zu einer Novellierung der italienischen Strafgesetzgebung: Die sah bis dahin noch Strafmilderungen und Ausnahmeregelungen für das Verbrechen zur Wahrung der Ehre vor. Ein gänzlich falsch verstandener Ehrbegriff! Er nährte sich von der Überzeugung, dass die Frau ein physisches Etwas im ausschließlichen Besitz eines Padrone, eines Vaters oder Ehemanns oder wessen auch immer sei.

Wenn die Frau in der sizilianischen Kultur ein Besitzobjekt war, so war sie es entsprechend auch in der sizilianischen Mafia: ein Etwas unter der Herrschaft erst des Mafiavaters, dann des Mafiagatten.

Objekte, die nicht Täter sein können

Über Jahrzehnte hat diese Abwertung der Frauen auf den Status eines Objekts eine Situation perpetuiert, die sowohl folgerichtig wie paradox war: Frauen konnten nicht für die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und der entsprechenden Vergehen zur Verantwortung gezogen werden - selbst wenn sie aktiv als Komplizin auftrat und an den inneren Kreis der Organisation oder Mafiafamilie gebunden war.

So war die Mafia-Frau in der öffentlichen Darstellung das von einem schwarzen Schleier verdeckte Antlitz, das sich über einen blutigen Leichnam eines der unzähligen Opfer der Mafia beugte. Sie durfte aufschreien, dann musste sie verstummen. Ihr Gesicht wurde zur Maske, zum Zeichen der Akzeptanz der kriminellen Regeln. Es oblag den Männern, diese der Familie zugefügte Beleidigung zu rächen.

Viele Jahrzehnte gingen ins Land, bevor die ersten Anklageerhebungen und Gerichtsurteile gegen Frauen wegen Mafiavergehen zustande kamen. Heute, angesichts des Sittenwandels und der schrittweisen Befreiung auch der sizilianischen Frauen aus der erstickenden physischen und sexuellen Herrschaft des Mannes, selbst in den kriminellen Organisationen, gewinnen Frauen an Bedeutung.

Die Mafia wird weiblich

Viele Frauen übernehmen mittlerweile Machtfunktionen, und sei es, weil sie als Ehefrauen und Töchter der Bosse zunächst nur vorübergehend eine Aufgabe erfüllten, da der Boss hinter Gittern oder untergetaucht war. Darüber hinaus sind Frauen heute zu vollwertigen Partnern und selbst zu Bossen geworden.

Selbst die identitätstragenden Kriminellen müssen sich an neue Zeiten anpassen. Als Papst Franziskus des Seligen Don Pino Puglisi gedachte, des Gemeindepfarrers von Brancaccio, den die Mafiafamilie Graviano ermordete, forderte er die Gläubigen auf, "zu beten, dass diese Mafiamänner und Mafiafrauen Reue zeigen und umkehren".

Es ist jedoch auch zu bedenken, dass viele Frauen in der sizilianischen Gesellschaft einen entscheidenden Beitrag geleistet haben, um von innen heraus die Mafiagesellschaft und die Mafiafamilie zum Implodieren zu bringen. Aus dem Herzen der Mafiamacht heraus wurden sie zu Zeuginnen dafür, wie die Mafia die sizilianischen Werte entstellt und ruiniert. Sie sind in großer Zahl auf Distanz gegangen. Sie haben nicht mehr voll schmerzlicher Resignation geschrien. Sie haben den schwarzen Schleier zerrissen und vor Entrüstung ihre Stimme erhoben. Denn die Mafia zerstört die Familie und macht aus ihr eine kriminelle Vereinigung; sie höhlt jegliches Ehrgefühl aus, dass nichts als Schmach und Schande bleibt; sie lässt aus Freunden und Verwandten Komplizen werden.

In Sizilien ist die Liste der couragierten Großmütter, Mütter, Schwestern, Töchter, Ehefrauen mittlerweile lang. Lang ist auch die Liste der Polizeibeamtinnen, der Richterinnen, die um der Freiheit aller und in erster Linie um der Befreiung der Frauen von der mafiösen Perversion sizilianischer Werte willen einen außerordentlichen Beitrag geleistet haben.

Ich glaube, es lässt sich - sicherlich vereinfachend, aber dennoch - behaupten: War bislang die Kultur der Mafia in Sizilien traditionell männlich geprägt, so steht heute die Kultur der Antimafia oder der Mafiabekämpfung unter weiblichem Vorzeichen - den modernen Zeiten gemäß.

Leoluca Orlando, 66, von 1985 bis 2000 und seit 2012 Bürgermeister von Palermo, ist wegen seines Eintretens gegen die Mafia eine der am meisten gefährdeten Personen Italiens.

Übersetzung: Monika Lustig

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Quelle:
SZ vom 09.04.2014/cam/olkl
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