Süddeutsche Zeitung

Frankreich:Paris wappnet sich für die Flut

106 Jahre nach der Jahrhunderflut steht möglicherweise eine neue bevor. Paris übt für den Ernstfall - mit einer spektakulären Trockenübung.

Von Christian Wernicke, Paris

Die Lage spitzt sich zu. Seit Montag steigt die Seine um 50 Zentimeter täglich, noch vor dem Wochenende - so unterstellt die Polizeipräfektur von Paris - wird der Fluss über die Kaimauern schwappen. 500 Quadratkilometer Land werden im Großraum Paris unter Wasser stehen, schätzungsweise 830 000 Menschen bekämen dann, sobald sie auf die Straße träten, nasse Füße. Pariser Metro und drei Fernbahnhöfe kämen zum Stillstand, 1,5 Millionen Menschen müssten ohne Strom oder Gas auskommen. Und eine Million Ratten würden aus ihren unterirdischen Verstecken an die Oberfläche getrieben.

Fünf Millionen Bürger wären betroffen

Panik? Nein. Das Szenario, das Paris versinken sieht, ist nur eine Übung. Eine Trockenübung: "Sequana 2016" heißt das Großmanöver, mit dem sich die Metropole für den Ernstfall rüstet. 150 Polizisten, 900 Rettungskräfte sowie Vertreter von 87 Behörden und Unternehmen beteiligen sich an dem einzigartigen Experiment. "Wir wollen den Menschen keine Angst machen", sagt Polizeipräfekt Michel Cadot, "aber wir wollen das Bewusstsein für das Risiko wecken - damit die Menschen sich besser vorbereiten."

Vor zwei Jahren hatte eine Studie der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, das Pariser Rathaus wachgerüttelt: Fünf der über zwölf Millionen Bürger im Großraum Paris wären von einer möglichen Flut betroffen, prognostizierten die Experten, die zugleich Schäden in Höhe von 30 Milliarden Euro ausmalten. Denn, so weiß Jean-Paul Kihl, der Generalsekretär für Sicherheit und Verteidigung der Krisenzone Paris (SGZDS), die Wahrscheinlichkeit einer Jahrhundert-Flut liegt bei immerhin einem Prozent: "Das kann in fünf, in zehn oder 20 Jahren sein - aber dieses Ereignis wird kommen."

Die letzte "Crue du siècle" (Jahrhundertflut) liegt 106 Jahre und zwei Monate zurück: Im Januar 1910 trat die Seine nach wochenlangen Regenfällen über ihre Ufer und flutete südlich und nördlich der Hauptstadt ganze Dörfer. Heute sind dies die Gegenden, in denen die Hochhaussiedlungen der Pariser Banlieue stehen: Millionen Menschen wären betroffen. Ein Grund, warum die Katastrophenschützer ihre spektakulärsten Manöver in den Vorstädten planen: Am Wochenende retten Hubschrauber freiwillige Komparsen aus einem Altenheim. Am Tisch des virtuellen Krisenzentrums werden zudem die Insassen eines Gefängnisses evakuiert.

Pariser Verkehrsbetriebe lagern in einem Depot 280 Betonmischmaschinen

Die Bilder von 1910 lassen erahnen, was auf die Pariser auch heute zukäme: In den Straßen des 7., 12. und 15. Arrondissement würden wieder Holzstege aufgebaut, über die Anwohner ins Trockene balancieren. Holzkähne schipperten damals die Abgeordneten ins Palais Bourbon, dem Sitz der Nationalversammlung. Laut "Sequana-Szenario" erreicht das Hochwasser die Pyramide im Innenhof des Louvre ebenso wie Garten und Keller des Élyséepalastes. Obendrein bräche, einst wie heute, der öffentliche Nahverkehr zusammen: Die Stromschienen von Metro und S-Bahn (RER), die inzwischen Millionen Pendler transportieren, würden abgeschaltet.

Damals liefen die Tunnel voll, heute gelten 140 der 322 Schienenkilometer als gefährdet. Die Pariser Verkehrsbetriebe lagern in einem Depot 280 Betonmischmaschinen, um 470 Eingänge und Luftschächte schnell mit Schutzwällen gegen das Wasser zu sichern. Und ab Samstag wird handfest geübt: Die bei Touristen beliebte Station "Invalides" wird wenigstens zum Teil zugemauert. Ganz trocken, zur Bewusstseinsbildung.

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SZ vom 09.03.2016
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