Frankreich nach dem Anschlag:Die Wunden von Nizza

Terror attack in France

"Nichts wird mehr sein wie es war, Nizza, meine Schöne" steht auf dieser Trauernotiz am Tatort.

(Foto: dpa)

Was bedeutet der Anschlag für das Zusammenleben der Religionen in Nizza? Ein Besuch beim Gedenkgottesdienst und bei der katholischen und muslimischen Gemeinde.

Von Felix Hütten, Nizza

Von oben, aus der Luft, beim langen Anflug an der Küste vorbei, sieht Nizza aus wie immer. Unten an der Strandpromade sprechen Reporter von einem Memorial. Das klingt nach 9/11, dort, am Ende der Absperrungen an der Strandpromende, wo sich am Freitagabend Übertragungswagen aus der ganzen Welt versammelt haben. Die Scheinwerfer der Fernsehteams leuchten auf den Schein der Trauerkerzen, aber sie erhellen nichts, es gibt noch immer nichts zu sehen.

Die Kameraleute sind genervt und müde, ein US-Reporter übt mit einer Palme seine Live-Schalte. Das Memorial, wird er später berichten, hat sich vor dem McDonalds etabliert, wo sich am Abend, der Anschlag ist gut einen Tag her, mehrere Dutzend Menschen versammeln, Kerzen niederlegen, weinen. Und doch stimmt das zunächst nicht mit dem Memorial, es sind nicht die Berge an Blumen, das Meer an Kerzen, wie einst in Paris vor dem Redaktionsgebäude von Charlie Hebdo, oder Monate später vor dem Bataclan. Es sind nur wenige Menschen, die sich hier am Abend versammeln, auch wenn das in den Nahaufnahmen der Fernsehsender anders aussieht. Mittlerweile hat sich das aber geändert, die Blumen und Kerzen sind deutlich mehr geworden.

Einige Menschen halten Schilder in die Luft, darauf ist zu lesen, dass Frankreich nun endlich etwas gegen Daech, wie sie hier zum IS sagen, unternehmen solle. Aber das tut es doch, heißt es aus dem Élyseé-Palast. Präsident Hollande will gegen den Terror kämpfen, der mal wieder über das Land gekommen ist, diesmal am Nationalfeiertag, dem Gedenktag des Sturms auf die Bastille, an dem die Franzosen das Ende einer Schreckensherrschaft feiern wollten.

Ein Ende des Schreckens aber ist nicht in Sicht, noch immer sitzt der Schock in den Knochen. Und doch verhallen Stunden nach der Todesnacht zunächst die Forderungen nach Kontermaßnahmen gegen den internationalen Terror, als sich die Anzeichen verdichten, dass sich der Attentäter womöglich gar nicht im Auftrag eines göttlichen Plans wähnte. Jetzt hat sich der IS zu der Tat bekannt, doch bleiben Zweifel, ob es sich nicht vielmehr um einen Einzeltäter handelt, voller Hass und ohne Skrupel.

Auch im Gedenkgottesdienst für die Opfer, am frühen Freitagabend in der Kathedrale Sainte-Réparate in der Altstadt von Nizza, verzichten die Betenden auf jedwede Kriegsrhetorik. Auch Marion Maréchal-Le Pen ist gekommen, sommerlich gekleidet mit beiger Hose und ohne Trauermine. Die Nichte der Front-National-Chefin Marine Le Pen bemüht sich um einen ernsten Gesichtsausdruck, und doch huscht ihr ein Lächeln über die Lippen, als sie der Priester mit Handschlag begrüßt. Es mag die Freude sein, ihn zu treffen, es mag die Freude sein, dass sie mit dem Anschlag mal wieder ihre politische Agenda medienwirksam positionieren kann: Schluss mit Immigration, Schluss mit offenen Grenzen und irgendwie auch: Schluss mit der Toleranz gegenüber Muslimen in Frankreich.

Gil Florini widerspricht, von Hass gegen Muslime könne keine Rede sein. Der Priester der katholischen Kirche Saint Pierre d'Arène, keine hundert Meter vom Strand entfernt, war in der Nacht auf der Promenade, wo die Behörden kurzerhand ein Seelsorgezentrum eingerichtet haben. Seither finden hier Menschen Beistand und können sich von Ärzten untersuchen lassen. Florini sagt, die Wunden der Opfer seien tief, es gehe da nicht um gebrochene Beine. Überhaupt sei für Nizza der Sommer dieses Jahr vorbei. Zwar wird das Alltagsleben weitergehen, aber die Touristen bleiben fern, und damit auch der Glanz dieser atemraubenden Stadt.

Und sonst? Wie ist das zu werten, wenn Vertreter des rechtspopulistischen Front National, wie zum Beispiel Vize-Chef Florian Philippot öffentlich beklagen, dass Frankreich immer mehr zum Opfer radikalislamischer Fanatiker werde?

Florini thront auf den Treppen seiner Kirche, das Gewand in weiß-lila, er versucht zu beschwichtigen. Der Täter sei ein Psychopath gewesen, er glaubt nicht an einen IS-Terroristen. Es sei hier nie um Gott gegangen, um Religion, um den heiligen Krieg. Es gehe ganz alleine um Hass, um eine gehörige Portion negativer Energie, die sich katastrophal entladen habe. Eine Verzweiflungstat eines verzweifelten Menschen.

Und wie geht es nun den Muslimen von Nizza?

Das mag sein, oder auch nicht, die französischen Ermittler werden die Tat rekonstruieren, das Umfeld des Täters erkunden. Auffällig ist, dass der Islamische Staat erst spät die Todesfahrt für sich reklamiert. Auch die französische Regierung ist sich uneins. Während Premierminister Manuel Valls am Abend verkündet, der Täter habe Verbindungen zum radikalen Islamismus gehabt, versucht Innenminister Bernard Cazeneuve zu bremsen. Bislang gebe es dafür keinen eindeutigen Beleg.

Wofür es allerdings Belege gibt, ist ein anhaltendes Unwohlsein der französischen Behörden in Punkto Islam. In Nizza hat es in den vergangenen Monaten erheblichen Streit um die Frage gegeben, ob eine neugebaute Moschee im Osten der Stadt eröffnen darf - oder besser nicht. Anfang Juli wurde sie schließlich eröffnet.

Nachfrage bei Ahmad Kassar, dem Schatzmeister der "Union des Musulmans des Alpes-Maritimes", zu dessen Gemeinde die Moschee zählt. Um zu ihm zu kommen, geht es unter einer Autobahnbrücke durch an dreckigen Fensterfassaden vorbei, den Boulevard de Madeleine hinauf. Nizza ist auch hier nicht hässlich, aber Handyshops und Fast-food-Buden, zwischen denen Kassar und seine Gemeinde in einem grauen Neubau täglich beten, zeigen deutlich, welchen Stellenwert muslimische Gemeinden in Nizza, ja in ganz Frankreich noch immer haben.

Kassar, ein breiter Mann mit tiefer Stimme, beklagt, dass die Stigmatisierung gegenüber Muslimen immer weiter zunehme. Lange vor der Lkw-Attacke, an die kommenden Tage will er erst gar nicht denken. Schätzungsweise zehn Opfer des Anschlags waren Muslime, weitere 20 sollen verletzt sein, Kassar befürchtet, dass es auch Mitglieder seiner Gemeinde getroffen hat. Aber letztlich wird das untergehen, sagt er und ist sich mit Priester Florini in einem Punkte einig: Der Täter sei ein Psychopath gewesen, kein Gläubiger.

In Nizza geht, ganz wie es der Priester vorhergesagt hat, das Leben weiter. Am Samstagmorgen fahren Handwerker mit ihren rostigen Peugeots vor den Tabakladen an der Straßenecke vor, um noch schnell einen Café zu trinken. Afrikanische Flüchtlinge suchen Schatten unter Bäumen und am Strand joggen Touristen mit nacktem Oberkörper. Und doch hat sich etwas geändert, Nizza ist leiser geworden und die Bedienungen in den Cafés sagen zum Abschied zu ihren Stammgästen "fais attention à toi", pass auf dich auf.

Man habe gestern den Tag über für die Opfer gebetet, sagt Priester Florini, sagt Schatzmeister Kassar. Man werde das in den kommenden Tagen wiederholen. An der Promenade des Anglais hat die Polizei am Abend den Lkw mit einem gelben Schlepper nach Westen gezogen, zurück in die Richtung, aus der er angerauscht kam. 20 Einschlusslöcher konnte man in der Frontscheibe zählen, etwa zehn an der Seite, ein Bild der Zerstörung. Der Schlepper und der Unglückswagen setzen sich also in Bewegung, die Wellen rauschen währenddessen an den menschenleeren Strand. Der Lkw wird auch am Seelsorgezentrum vorbeigezogen, wo weiterhin Menschen ein- und ausgehen. Jeder hier hofft, dass es schon bald seine Tore wieder schließen kann.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: