Frankreich:Kronzeuge "Pierre"

French Archbishop Philippe Barbarin leads the traditional procession to Mary, in Lyon

Zu spät reagiert? Der Kardinal von Lyon, Philippe Barbarin.

(Foto: Robert Pratta/Reuters)

Lyons Kardinal gerät wegen eines Missbrauchsskandals stark unter Druck: Der französische Premierminister fordert von ihm Taten statt Worte.

Von Christian Wernicke, Paris

Gottvertrauen ist es nicht gerade, was seine Eminenz an diesem Vormittag ausstrahlt. "Niemals, niemals", so beteuert Kardinal Philippe Barbarin, "niemals habe ich einen Fall von Pädophilie gedeckt!" Der Kardinal von Lyon hat die Augen weit aufgerissen, er spricht hektisch. Barbarin weiß, was auf dem Spiel steht: Der Ruf seiner Kirche ist ebenso gefährdet wie seine Karriere. Bis zu 60 Opfer von sexuellen Übergriffen eines Pfarrers werfen der Kirche vor, nichts zu ihrem Schutz unternommen zu haben. Inzwischen ermittelt der Staatsanwalt wegen des Verdachts der Verheimlichung von Straftaten - und Kirchenkritiker sprechen, frei nach dem Oscar-prämierten Film, vom "französischen Spotlight in Lyon".

Die Panik ins Antlitz des Kardinals getrieben hatte am Dienstagmorgen ausgerechnet Manuel Valls. Im Frühstücksradio war Frankreichs Premierminister nach dem Skandal gefragt worden und danach, ob der bei konservativen Katholiken besonders beliebte Kardinal Barbarin zurücktreten müsse. "Ich erwarte, dass der Kardinal sich seiner Verantwortung stellt", sagte Valls, "wir brauchen jetzt nicht nur Worte, sondern Taten." Knapp drei Stunden später, während einer Bischofskonferenz im Wallfahrtsort Lourdes, stellte sich Barbarin bleichen Gesichts den Kameras und sagte: "Ja, ich übernehme meine Verantwortung." In 17 Jahren als Bischof habe er von zwei Fällen pädophilen Missbrauchs erfahren "und sofort gehandelt". Überhaupt stehe er "immer aufseiten der Opfer". Genau das bezweifeln viele in Lyon. Es geht um zwei Fälle. Den ersten erzählt die Opfer-Vereinigung La Parole Liberée: Es ist die Geschichte von Pfarrer Bernard Preynat, der in den Jahren von 1986 bis 1991 sich an mindestens 60 meist minderjährigen Jungen vergriffen haben soll. Von 15 Zeugen hat die Polizei erschreckende Zeugnisse protokolliert. Pfarrer Preynat wurde von der Kirche zwar versetzt - aber auch befördert. 2002 übernahm Barbarin als Bischof in Lyon die Verantwortung. Er beließ Preynat im Amt und vertraute dessen Versicherung, seit 1991 keine Jugendlichen mehr angefasst zu haben. Der zweite Fall ist seit wenigen Tagen publik. Der bis heute predigende Pfarrer Jérôme Billioud soll sich 1991 an einem damals 16-jährigen Pfadfinder vergangen haben. Wieder beließ Barbarin den Hirten im Amt, obwohl er - wie er im Gespräch mit dem Opfer des offenbar pädophilen Priesters einräumte - dessen Taten kannte. Der Kardinal habe den Skandal "unter den Teppich kehren wollen", glaubt der Kronzeuge namens "Pierre", der heute als hoher Beamter im Pariser Innenministerium arbeitet. Er selbst, so bezeugt "Pierre", traue der Kirche nicht mehr. Seine beiden Kinder ließ er nicht taufen, und auch zu den katholischen Pfadfindern lässt er sie nicht gehen.

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