Süddeutsche Zeitung

Frankreich:Die Schwäche der französischen Staatsmacht

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Seit Wochen werden in französischen Gefängnissen Aufseher angegriffen. Jetzt streiken die Ordnungshüter. Der Gefängnisbetrieb im nahezu gesamten Land ist gelähmt.

Von Joseph Hanimann, Paris

Es begann vor zwei Wochen im Hochsicherheitsgefängnis Vendin-le-Vieil in Nordfrankreich. Der wegen terroristischer Komplizenschaft verurteilte Deutsche Christian Ganczarski stürzte sich beim Öffnen der Zellentür auf die Justizvollzugsbeamten und verletzte unter dem Ruf "Allahu Akbar" mit einer Schere drei von ihnen. Der Gefängnisdirektor trat danach zurück, doch die Übergriffe häuften sich auch anderswo. Im südwestfranzösischen Mont-de-Marsan wurden sieben Wärter angegriffen, im südlichen Tarascon schlug ein Häftling eine Aufseherin mit der Faust arbeitsunfähig, und in einem anderen Gefängnis Nordfrankreichs ging einer mit einem eisernen Tischbein auf die Beamten los. Jetzt streiken die Beamten, und zwar nahezu überall in Frankreich.

Etwa zwei Drittel der knapp 200 Haftanstalten sind betroffen. Die Häftlinge können ihre Zellen seltener oder gar nicht mehr verlassen, der Betrieb läuft auf Sparflamme. Vor dem Gefängnis Fleury-Mérogis, mit 4300 Gefangenen die größte Anstalt Europas, brannten die streikenden Wärter Autoreifen ab. Ihr lange schon schwelender Unmut hat damit einen neuen Höhepunkt erreicht.

Der Justizministerin Nicole Belloubet wird vorgeworfen, spät auf die Vorfälle reagiert zu haben. Verhandlungsgespräche über bessere Arbeitsbedingungen verliefen am Montag im Ministerium ergebnislos, sie gehen weiter. Die Gewerkschaften verlangen 2500 zusätzliche Aufsichtsstellen (statt der zugesagten tausend) und mehr Lohn: Für 1400 Euro monatlich jeden Morgen seine körperliche Sicherheit aufs Spiel zu setzen, sei nicht mehr hinnehmbar, sagen sie. Krankschreiben gehört zur Überlebensstrategie unter den Gefängniswärtern.

In Frankreich stehen rund 27 000 Aufseher knapp 70 000 Häftlingen gegenüber. Das Land wird von internationalen Instanzen seit Jahren regelmäßig gerügt für die Haftbedingungen. Durchschnittlich 113 Insassen kommen auf 100 Plätze, in manchen Anstalten leben bis zu drei oder vier Häftlinge auf neun Quadratmetern, mit offener Toilette und entsprechender Hygiene. Im Hof staut sich der aus dem Fenster geworfene Müll, in den Matratzen hausen Läuse, über die Flure huschen Ratten. Unter den Häftlingen herrscht ohne Eingreifen der Aufsicht oft Terror und Panik.

Mit einer Feuerblockade protestiert das Gefängnispersonal von Vendin-le-Vieil gegen seine Arbeitsbedingungen. Kurz zuvor hatte ein Inhaftierter drei Wärter mit einer Schere attackiert.

Auch in anderen Gefängnissen häufen sich Attacken gegen das Wachpersonal. Nahezu überall im Land streiken jetzt die Aufseher, so wie hier vor dem Baumettes Gefängnis in Marseille.

Die Haftbedingungen in Frankreich werden seit Jahren international gerügt, die Gefängnisaufseher sind überfordert. Hier wird einer der Streikenden in Marseille von der Polizei abgeführt.

Statt Betreuung mit den entsprechenden Mitteln können die Beamten in dieser Gemengelage aus Frust und miserablen Bedingungen oft nur noch eine Scheinordnung mit dem Schlagstock garantieren - und offenbar immer öfter auch das nicht mehr. Manche verlangen nun den Einsatz von Tasern, zur eigenen Sicherheit. Sie fühlen sich als die letzte Instanz, an welche die Gesellschaft ihre Problemfälle zur Verwahrung abschiebt, ohne genau wissen zu wollen, wie. Trotz zahlreicher Projekte von namhaften Sportlern, Künstlern und Schriftstellern mit Häftlingen stapelt der Zentralstaat Frankreich seine Sozialprobleme hinter den hohen Gefängnismauern und lässt das Personal damit allein.

Die Schwierigkeiten werden umso akuter, als auch das Profil der Gefangenen sich verändert. Statt Dieben, Kleinverbrechern und Drogenhändlern sitzen immer mehr Radikale und potenzielle Terroristen in den Zellen. Sie haben aus dem Bruch mit der Gesellschaft ein Lebensprogramm gemacht; in Frankreich wird ihre Zahl auf 1600 geschätzt. Für den Umgang mit ihnen gibt es noch kein klares Konzept. In manchen Anstalten wurden sie in einem Sondertrakt zusammengelegt, damit sie mit ihren Hassgefühlen die anderen Häftlinge nicht anstecken. Das Ergebnis war jedoch, dass sie sich im Fanatismus gegenseitig hochschaukelten und ihre Abteilung als ihr Territorium betrachteten. Die Schwäche der Staatsmacht ist in einigen französischen Gefängnissen schon so weit, dass die Aufseher nicht mehr als Ordnungshüter, sondern als Eindringlinge und Ordnungsstörer gelten.

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Quelle:
SZ vom 24.01.2018
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