Martin oder nicht Martin, das ist hier die Frage. Zwar weiß die Welt seit dem aufsehenerregenden Prozess-ende vor dem Parlament in Toulouse im Herbst 1560, dass derjenige, der sich vier Jahre lang als Bauer Martin Guerre ausgab, ein Betrüger aus einem Nachbarort war. Doch die Raffinesse, mit der Arnaud du Tilh - so der echte Name des Erbschleichers und Ehebrechers - die falsche Identität annahm und mit der er dann für die Rolle seines Lebens vor Gericht stritt, rief schon bei Zeitgenossen Bewunderung hervor. Während der wahre Martin Guerre als hartherzig missfiel.
So notierte schon ein Jahr danach der Autor Guillaume Le Sueur: "Er schien den Richtern nicht einfach Dinge zu erzählen, er ließ sie vielmehr vor den Augen der Richter wieder aufleben."
Der Philosoph Montaigne wohnte als Kind dem Prozess bei und schrieb später darüber: "Ich sah in meiner Kindheit einen Rechtshandel über einen sonderbaren Vorfall... Zwei Menschen nämlich machten Anspruch darauf, eine Person zu sein. Ich erinnere mich noch, dass es mir damals so vorkam, derjenige, welcher für strafbar erklärt wurde, habe seinen Betrug so wunderbar, so weit über unsere Einsicht und die Einsicht dessen, welcher Richter war, getrieben, dass ich den Ausspruch sehr gewagt fand, der ihn zum Strange verurteilte."
Die Geschichte vom verlorenen Sohn
Die Wiederkehr des Martin Guerre ist ein Drama, das die Phantasie bis heute bewegt. Der "so köstliche und so ungeheuerlich sonderbare Stoff", wie ein Zeitzeuge schrieb, regte zu mehreren Romanen, einem Musical und zwei Verfilmungen an. Während Jon Amiel die Story in seinem Hollywood-Film 1993 in die Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs verlegte, hatte ein Jahrzehnt zuvor der französische Regisseur Daniel Vigne versucht, sie so korrekt wie möglich zu erzählen.
Unterstützung erhielt er dabei von der Historikerin Natalie Zemon Davis, die mit "Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre" (1982) die maßgebliche Arbeit zum Thema vorlegte. Der Film mit Gérard Depardieu ist ein wunderbares Spiel der unterschiedlichen Blickwinkel und Blicke - der staunenden und glücklichen ebenso wie der ungläubigen und misstrauischen. Sie scheinen immer das Sprichwort zu variieren, wonach die Lüge tausend Gesichter besitzt, die Wahrheit aber nur eines.
Vorhang auf für Arnaud du Tilh, genannt Pansette, das Bäuchlein, in der Rolle des Martin Guerre. 1556 taucht der Hochstapler im Bauerndorf Artigat in den französischen Pyrenäen auf. Dessen Bewohner trauen ihren Augen nicht. Denn der Mann vor ihnen ähnelt auf verblüffende Weise ihrem Martin, der acht Jahre zuvor im Alter von 24 Jahren mir nichts dir nichts das Dorf, seine Frau Bertrande und den kleinen Sohn zurückließ und, wie sich später herausstellte, nach Spanien und in den Krieg zog. Die Gründe für sein Verschwinden hat man in der verkorksten Ehe zu suchen - als Martin heiratete, war er 14, seine Frau noch jünger. Aber auch in einem aufgedeckten Diebstahl - Martin hatte seinem Vater Getreide gestohlen.
Es ist die Geschichte vom verlorenen Sohn, die der mittellose Arnaud du Tilh aufführt. Er, der in seinem Heimatort ebenso als verschollen gilt, muss in dem Moment auf die Idee verfallen sein, Martin Guerres Identität anzunehmen, als er von einigen Personen mit dem verschwundenen Bauern verwechselt wird. Er informiert sich genau über den Vermissten, dann wagt er die Begegnung mit den Dorfbewohnern. Selbst wenn die eine oder andere Äußerlichkeit, etwa das Bäuchlein, Zweifel wecken: mit seinem Wissen über Martin Guerre, das auch intimste Details einschließt, fegt er alle Bedenken beiseite.
Plötzlich erscheint ein Einbeiniger
Und Bertrande? Hat auch die schöne Frau in Arnaud du Tilh ihren Gatten wiedererkannt? Ja und nein. Man bedenke: Jahrelang besaß sie in ihrem Dorf einen fragwürdigen Status, war weder Ehefrau noch Witwe. Nun scheint sie in der wundersamen Rückkehr die Möglichkeit gesehen zu haben, wieder respektiert zu werden. Denn spätestens im Bett wird Bertrande aufgefallen sein, dass ein Doppelgänger neben ihr liegt. Aber der ist gar nicht so übel: Der falsche Martin ist rücksichtsvoller als der echte Martin, er kann wunderbar erzählen und er arbeitet auch besser.
Damit beginnt das, was Natalie Zemon Davis "die erfundene Ehe" nennt. Es muss aber auch Liebe mit im Spiel gewesen sein, denn anders ist Bertrandes späteres Verhalten vor Gericht kaum zu erklären. Dorthin schleppte der Onkel Pierre Guerre seinen vermeintlichen Neffen vier Jahre später. Auslöser waren Geld- und Erbschaftsstreitigkeiten, die für eine Generalabrechnung genutzt werden sollten: die Entlarvung eines Betrügers. Schließlich erzählten regelmäßig Durchreisende, sie wären dem echten Martin begegnet. Und dieser besäße nur noch ein Bein.
Vor Gericht läuft Arnaud du Tilh zu großer Form auf. Bertrande mimt die Zweifelnde, damit Arnauds Argumente umso überzeugender wirken. Man will als juristisch legitimiertes Ehepaar den Saal verlassen.
Das wäre auch beinahe geglückt. Wenn, ja wenn nicht kurz vor dem erlösenden Freispruch plötzlich der echte Martin Guerre vor den Richter getreten wäre. Auf einem Bein. Nach Natalie Zemon Davis ist das größte Rätsel dieser Geschichte, warum es sich der Vermisste zwölf Jahre nach seinem Verschwinden anders überlegt hat und humpelnd zurückgekehrt ist.
Am 16. September 1560 wurde Arnaud du Tilh aufgrund "des Betruges und der falschen Annahme von Namen und Person und des Ehebruchs" vor dem Haus Martin Guerres in Artigat gehängt.