Jetzt kommt der Moment, da es einem doch tatsächlich die Tränen in die Augen treibt. Ganz hinten, in der letzten Reihe des Orchesters, wo man neben der Violinistin Gabriela Schönová und dem Gitarristen Miroslav Žára Platz genommen hat. Im großen Studio des tschechischen Radios in Pilsen. Draußen stehen ein paar Weihnachtsbuden, in denen goldgefärbte Misteln verkauft werden. In der Kirche ist die Krippe schon fast fertig aufgebaut. Und hier drinnen hört man Gabriela und Miroslav - immer wieder - das honigsüße Hauptmotiv von "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" spielen. Diesen mehr als 40 Jahre alten ČSSR/DDR-Film, dem das deutsche Fernsehen durch seine permanenten Feiertagswiederholungen langsam den Garaus zu machen scheint. Doch live ist es halt immer was anderes. Da sitzt man, umrahmt von fast einhundert Musikern, auf abgewetztem tschechoslowakischen Linoleumboden. Und flennt fast.
Alte Filme, digital auf Großleinwand projiziert, mit großem Orchester aufgeführt - das läuft gut, in diesen Tagen. Die Münchner Philharmonie scheint ein besonders geeigneter Ort für solche, oft ziemlich teuren Veranstaltungen zu sein. Anfang Januar gibt es dort "die schönsten Szenen aus Disney-Klassikern", dreimal, kurz darauf folgt "Die Eiskönigin", ebenfalls dreimal, und im April ist der Saal gleich viermal für "Titanic" gebucht. Immer auf Großleinwand, immer mit Live-Orchester.
Einer der Förderer dieses Genres ist es, der im Pilsener Radio-Studio jetzt in weißem Hemd und mit viel Leidenschaft den hübsch redundanten Aschenbrödel-Soundtrack dirigiert. Der Mann heißt Frank Strobel und ist zugleich Künstlerischer Leiter der Europäischen Filmphilharmonie - einer Berliner Einrichtung, die seit 15 Jahren einen wichtigen Anlaufpunkt für Filmmusikforscher, Orchester und Veranstalter darstellt.
Selbst nach fünf Stunden Dauer-Lalala ist der Dirigent noch immer nicht müde
Es ist ein boomender Markt. An diesem Dienstag erlebt "Aschenbrödel" mit dem Radiosymphonieorchester Pilsen seine live beschallte Welturaufführung in Stuttgart. Köln, München und Nürnberg folgen. "Da entsteht ein tolles Gemeinschaftsgefühl, wenn sich 2000 Menschen unterschiedlicher Generationen so etwas zusammen ansehen", sagt Dirigent Strobel.
Unglaublich: Selbst nach fünf Stunden Dauer-Lalala ist bei ihm keine Müdigkeit zu spüren. Während die tschechischen Musiker im staubigen Durchgangszimmer erschöpft Jacken, Mützen und Instrumente sortieren, schließt der 49-Jährige nach der Probe zackig seine Garderobe auf und wirft sich energievoll aufs schwarze Ledersofa. Mit 13 Jahren schon, erzählt Strobel, habe er im Kino, das seine Eltern im Münchner Olympiadorf betrieben, Filme eingefädelt. "Und wenn man immer hinten neben dem Projektor steht, lernt man schnell, gute von schlechter Filmmusik zu unterscheiden."
Kurz vor seinem 16. Geburtstag begleitete er dann erstmals "Metropolis" live am Klavier. In der Schulaula. Das Goethe-Institut wurde auf ihn aufmerksam und schickte ihn mit Fritz Langs Stummfilm um den Globus. Von Ägypten bis Kolumbien spielte Strobel, was auch der Großzügigkeit seines Schuldirektors zu verdanken war. Nach dem Abitur hätte er ins Opernfach wechseln können, baute aber lieber in Frankfurt die Filmmusikabteilung des Deutschen Filmmuseums mit auf und führte nach dem Fall der Mauer drei Orchester (das DEFA-Filmorchester, das Radio Berlin Tanzorchester sowie ein kleines Rundfunkorchester) als "Deutsches Filmorchester Babelsberg" zusammen.
Zunächst waren es Stummfilme wie "Die weiße Hölle vom Piz Palü" von Arnold Fanck, die Strobel vertonte. Mit Erfolg. Als er 1992 in der Frankfurter Alten Oper den Sowjet-Schinken "Die letzten Tage von St. Petersburg" (1927) aufführte, übertrug das ZDF zur besten Sendezeit. Und für die Rekonstruktion von Prokofjews Originalpartitur zum Film "Alexander Newski" (Sergei Eisenstein, 1938) wurde er in Russland ausgezeichnet. Seine live aufs Brandenburger Tor projizierte "Metropolis"-Aufführung schaffte es vor fünf Jahren sogar auf die Titelseite der New York Times. Seit einigen Jahren nun dirigiert Frank Strobel Tonfilme mit Livemusik. "Matrix" (von 1999) zum Beispiel, im Opernhaus von Sydney. Acht Mal gastierte Strobel bereits dort. Selbst an der Mailänder Scala hat er schon Soundtracks dirigiert.
Filmmusik, das ist sehr oft Kitsch. Da muss man nicht drumherumreden. Die Aschenbrödel-Musik von Karel Svoboda ist sogar multiplizierter Kitsch. Das gibt auch die 26-jährige Violinistin Gabriela Schönová aus Pilsen zu. Die Musik des böhmischen Komponisten Antonín Dvořák gefalle ihr deutlich besser, sagt sie. Andererseits: "Die Menschen strömen in solche Veranstaltungen. Da wären wir als Musiker doch verrückt, nicht mitzumachen." Und auch der Prager Gitarrist Miroslav Žára, 38, erklärt, dass seine eigentliche Leidenschaft dem spanischen Flamenco gehört. "Aber natürlich beherrsche ich auch ,Der Herr der Ringe'." Wahlberliner Strobel, 60 bis 70 Konzerte dirigiert er pro Jahr, macht in seiner Garderobe ebenfalls keinen Hehl daraus, dass er sich besonders für stumme Filmschätze aus den 20er- und 30er-Jahren interessiert. Damals existierten in Berlin noch 30 Lichtspielhäuser mit Orchestern. "Chaplin kann heute noch Orient und Okzident zusammenbringen. Das schafft kein Internet. Leider wird er nur sehr selten in Kinos gezeigt."
Vor einigen Jahren noch verwehrten große Filmproduktionsfirmen Strobel die Aufführungsrechte aus Angst davor, er könne ein Werk wie Disneys "Fantasia" oder den Soundtrack von Tim Burtons Hauskomponisten Danny Elfman quasi live verhunzen. Doch heute plagt den Dirigenten ein anderes Problem: Weil die Lizenzgeber (auch dank seiner Hartnäckigkeit) erkannt haben, dass sich Live-Vertonungen neben Oper, Ballett und klassischem Konzert dauerhaft etablieren, werden die Rechte nun generell nicht mehr gerne nach außen vergeben. Lieber führt man selber auf.
Frank Strobel macht sich trotzdem keine Sorgen. Er finde bestimmt auch weiter seinen Weg zwischen Mainstream und Filmmuseum, sagt er, zwischen dem eher Anspruchsvollen im staatlich geförderten Kulturbetrieb und dem, was sich private Veranstalter so wünschen. Zusammen mit Filmphilharmonie-Geschäftsführerin Beate Warkentien, die mit ihm einst in die gleiche Schulklasse ging, bekomme er das schon hin. "Jetzt ist erst einmal Aschenbrödel dran", sagt der Dirigent mit weit übereinander geschlagenen Beinen. "Dann folgen ,Iwan der Schreckliche' und ,Black Swan'." Was er nicht so gerne mag: "Fluch der Karibik"-Gedudel oder, was es auch schon gibt: live vertonte Videospiele.
Zu Weihnachten wird Frank Strobel wieder bei Vater und Mutter in München sein. Das Kino, in dem seine Eltern einst Kinder- und Jugendfilmfestivals veranstalteten und Astrid Lindgren und Pan-Tau-Darsteller Otto Šimánek im Publikum Platz nahmen, es ist nur noch ab und zu in Betrieb. Als Jugendlicher saß Strobel dort auch nachts und schaute (und hörte) seine Lieblingsfilme an. In der Wohnung seiner Eltern, da stapeln sich immer noch Klassiker in Filmdosen. Wie Einweckgläser voller wunderbarer Bilder und Musik warten sie, irgendwann geöffnet zu werden.