Süddeutsche Zeitung

Psychologie:Der Mensch, das Herdentier

Ständig hat man den Eindruck, zu kurz zu kommen. Zum Beispiel beim Termin im Impfzentrum. Über ein Gefühl namens "Fear of Missing Out", kurz: "Fomo".

Von Martin Zips

"Da simmer dabei. Dat is prima", singt die Kölner Karnevalsband Höhner. Und im Karneval, da war's ja auch immer prima. Also damals, als die Kölner Kneipen noch offen hatten und man mit Björn und Tina so richtig lachen konnte. Jetzt wären viele auch wieder gerne mit dabei, vor allem mit den anderen im Impfzentrum. Doch stattdessen ist auf der ganzen Welt von "Fomo" die Rede, von der Furcht, vergessen worden zu sein, leer auszugehen, zu kurz zu kommen. Zum Beispiel bei der Vergabe für einen Impftermin. Wer's noch nie gehört hat: Fomo, das ist die "Fear of Missing Out".

Das Wort-Ungetüm hat der ehemalige Harvard-Student Patrick J. McGinnis erstmals im Jahr 2004 erwähnt. In einem Artikel für seine Campus-Zeitung beschrieb McGinnis damit ein Gefühl der damals noch jungen digitalen Generation. Bereits zu dieser Zeit nämlich vermittelten Bilder und Texte in Mails oder Foren ihren Empfängern permanent den Eindruck, gerade mal wieder etwas sehr Wichtiges im Leben zu verpassen. Fomo! Eine Party zum Beispiel, einen Strandurlaub oder eine glückliche Beziehung. Und so ließ sich der Mensch durch das, was andere posteten, immer mehr ablenken.

Betrug die durchschnittliche Konzentrationsfähigkeit am Computer im Jahr 2004 noch drei Minuten und fünf Sekunden, so waren es im Jahr 2016 nur noch 40 Sekunden, die der Mensch bis zum nächsten abschweifenden Blick oder Klick aushielt. Das ergaben Untersuchungen, die die Informatik-Professorin Gloria Mark von der University of California auswertete. Und jetzt? Wo man noch immer die Höhner im Kopf hat, die einst sangen: "Alles, wat mer krieje künne, nemme mir och met./Weil et jede Aureblick nur einmol jitt"?

"Die Fear of Missing Out ist der entscheidende Faktor, alle Menschen zur Impfung zu drängen", sagt Informatikprofessorin Gloria Mark heute. "Denn Menschen gehören am liebsten zur Herde."

"Solange es Fogo gibt, solange funktioniert auch Impf-Fomo"

Auch der ehemalige Harvard-Student und heutige New Yorker Bestseller-Autor, Trainee und Anlageberater Patrick J. McGinnis sieht die digitale Flut von fotografierten Impfpässen, Vakzin-Nadeln im Oberarm und den ersten Urlaubsreisen Zweitgeimpfter durchaus positiv. Der Drang, zur Herde dazuzugehören, habe sich über Jahrtausende doch meist bewährt, meint McGinnis, der auch den Podcast "Fomo sapiens" moderiert. Schon zu Zeiten der Jäger und Sammler habe der Ausschluss aus der Herde für das Individuum ein Todesurteil bedeuten können. Heute sei eben "Impf-Fomo" das Thema der Stunde. McGinnis: "Solange es Fogo gibt (also die ,Fear of Going Out', die Angst vor dem Ausgehen), solange funktioniert auch Impf-Fomo als Vakzin für die Gesellschaft."

Daher: Ruhig weiter posten, die wirklich hübschen Bilder aus dem Impfzentrum, der Hausarztpraxis oder dem Strandhotel! Neid kann ja so ungeheuer anspornend sein, auf dem Weg zur Herdenimmunität.

Während des Lockdowns seien unsere digitalen Endgeräte noch mehr zur "Lebensader" geworden, glaubt McGinnis. Das sei fantastisch für Großkonzerne wie Facebook und Co. Das Geschäftsmodell sozialer Netzwerke bestehe ja darin, "Fomo immer neu anzutreiben". Aber klar: Das ein oder andere Fomo-Gefühl mache dem Einzelnen auch mal schlechte Laune. Wenn's für ihn oder sie gerade nicht gut läuft, etwa mit dem Impftermin, glaubt McGinnis, könne Fomo sogar das Vertrauen in die eigene Regierung erschüttern oder den Hass auf andere Menschengruppen fördern. Ja, Fomo kann auch Freundschaften zerstören oder den ein oder anderen ein bisschen merkwürdig werden lassen.

Aber machen wir uns keine Illusionen. Fomo, die Angst, mal wieder zu kurz zu kommen, sie bleibt. Auch nach der Pandemie. Und haben Sie schon gehört? Elon Musk will bald die ersten Touristen ins All schießen! Ja, da simmer doch dabei! Dat is prima.

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