Fluglotse erstochen:Die Katastrophe nach der Katastrophe

In Zürich steht Vitali K. vor Gericht, der seine Familie beim Flugzeugabsturz von Überlingen verlor und den diensthabenden Lotsen tötete.

Judith Raupp

Auf dem Tisch im Kontrollzentrum des Züricher Flughafens steht immer eine Rose. Die Blume erinnert die Fluglotsen, die dort arbeiten, an ihren toten Kollegen. Am 24. Februar 2004 ist der damals 36 Jahre alte Däne Peter N. auf seiner Terrasse im Züricher Vorort Kloten erstochen worden. Von diesem Dienstag an steht sein mutmaßlicher Mörder Vitali K. vor dem Obergericht des Kantons Zürich. Er muss sich wegen vorsätzlicher Tötung verantworten.

Fluglotse erstochen: Das Grab der Familie: Trauer als Lebensinhalt.

Das Grab der Familie: Trauer als Lebensinhalt.

(Foto: Foto: AP)

"Mein Mandant kann sich jetzt an die Tat erinnern", sagt der Pflichtverteidiger Markus Hug. Als die Polizei Vitali K. am Tag nach der Bluttat im Hotel "Welcome Inn" festnahm, hatte der gebürtige Russe zunächst erklärt, er wisse nichts mehr. Er hatte den Fluglotsen vor den Augen seiner Frau auf der Terrasse seines Wohnhauses mit einem zehn Zentimeter langen Taschenmesser niedergestochen und ihn mit weiteren Stichen malträtiert, als sein Opfer längst am Boden lag.

Verlust der Familie nie verkraftet

Peter N. wurde sein Beruf zum Verhängnis. Der Lotse hatte Dienst, als am 1. Juli 2002 um 23.35 Uhr ein russisches Passagierflugzeug der Bashkirian Airlines und eine Frachtmaschine des Kurierdienstes DHL zusammenstießen und bei Überlingen am Bodensee abstürzten. Alle 71 Insassen - meist Kinder und Jugendliche - kamen ums Leben. Auch Svetlana, die Frau von Vitali K., seine vierjährige Tochter Diana und der elf Jahre alte Sohn Konstantin waren darunter. Sie wollten K. in Spanien besuchen, wo er als Bauingenieur arbeitete. Er reiste sofort nach Überlingen, als er von dem Unglück hörte. Vitali K. war einer der ersten Angehörigen an der Absturzstelle. Der 49-jährige Witwer hat den Verlust seiner Familie offenbar nie verkraftet. "Die Trauer bildete seinen praktisch einzigen Lebensinhalt", heißt es in der Anklageschrift.

K. betrachtete den dänischen Fluglotsen und dessen Arbeitgeber Skyguide als die Hauptschuldigen am Absturz. Die Schweizer Flugsicherungsfirma überwacht den süddeutschen Luftraum. In der Unglücksnacht lief im Kontrollzentrum in Zürich einiges schief. Der dänische Fluglotse war allein und musste zwei Bildschirme beobachten, das Warnsystem und das Telefon funktionierten aufgrund von Wartungsarbeiten nur eingeschränkt. Die Staatsanwälte in Konstanz und Winterthur ermitteln gegen acht Skyguide-Mitarbeiter wegen fahrlässiger Tötung. Ob eine Anklage folgt, ist offen.

K. dauerte die Aufklärung zu lange. Er reiste 2003 zur Gedenkfeier nach Überlingen. Es ärgerte ihn und viele andere Angehörige maßlos, dass Skyguide nur eine "Teilverantwortung" übernahm und sich nur zögerlich entschuldigte. Wütend machte ihn auch, dass er nicht mit Peter N. reden durfte. Anders als 41 Opferfamilien weigerte sich der Mann aus Wladikawkas zunächst, mit Skyguide einen Vergleich abzuschließen. Die Firma soll angeblich 150.000 Dollar an jede Opferfamilie bezahlt haben. 29 Familien klagen auf eine höhere Summe. In der vergangenen Woche hat K. unerwartet einem Vergleich über 100.000 Dollar zugestimmt.

Viele Hinterbliebene sehen den Russen als Opfer, nicht als Täter. Einige wollen am Prozesstag vor der Schweizer Botschaft in Moskau demonstrieren. Sie können verstehen, dass er im Februar des vergangenen Jahres erneut in die Schweiz reiste, um mit dem Lotsen zu sprechen. K. hatte das Haus des Dänen gesucht und die Terrasse betreten. Als der Skyguide-Mitarbeiter heraustrat, zeigte ihm der Hinterbliebene Fotos seiner Frau, seiner Kinder und ihres Grabmals. Der Lotse soll "aus Sicht" des Russen "abweisend" reagiert haben, heißt es in der Anklageschrift. Die Fotos fielen zu Boden. Da stach K. zu.

Täter suizidgefährdet

Er sitzt seit dem 14. Februar im vorzeitigen Strafvollzug. Zuvor war er wegen Suizidgefahr in der psychiatrischen Klinik. "Es geht ihm nie gut", sagt sein Anwalt. Ab und zu besucht ihn sein Bruder aus Russland. Und der Pfarrer des Flughafens schaut manchmal vorbei. Ob der Angeklagte bei der Gerichtsverhandlung mit seinem Verteidiger kooperiert, weiß der Anwalt selbst nicht. "Er hat seinen eigenen Willen und seinen Stolz", sagt Hug. Er plädiert auf Totschlag. Das Strafmaß liegt bei einem bis zehn Jahren. Bei einer Verurteilung wegen vorsätzlicher Tötung, wie sie der Staatsanwalt fordert, drohen K. bis zu 20 Jahre Gefängnis.

Die Frau des Opfers ist mit ihren drei Kindern wieder nach Dänemark gezogen. Sie hat früher auch bei Skyguide als Fluglotsin gearbeitet. Die Firma hat sie für den Tod ihres Mannes finanziell entschädigt. Manchmal schreibt sie ihren Ex-Kollegen in der Schweiz Briefe. Viele von ihnen waren bei der Beerdigung in Vingerod dabei. Auf dem herzförmigen Grabstein steht auf Deutsch übersetzt: "Du warst unser Ein und Alles."

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