Flüchtlingskrise:Die Geste des Papstes ist ein Denkzettel für Europa

Flüchtlingskrise: Der Papst begrüßt die zwölf Flüchtlinge nach der Landung in Rom.

Der Papst begrüßt die zwölf Flüchtlinge nach der Landung in Rom.

(Foto: AFP)

Franziskus nimmt zwölf Flüchtlinge von Lesbos mit in den Vatikan. Sehr viele Menschen müssen sich nun fragen: Tun wir genug?

Kommentar von Matthias Drobinski

Ist der Mann naiv? Zwölf Menschen hat der Papst von Lesbos mitgenommen. Franziskus hat sie einfach ins Flugzeug nach Rom gepackt; drei Familien aus Syrien mit insgesamt sechs Kindern, gestrandet auf der griechischen Insel. Zwölf Menschen!

Weltweit sind 60 Millionen auf der Flucht vor Krieg, Gewalt und Armut. Ein paar Hunderttausend stehen an den Grenzen eines Europa, das Zäume baut oder mit grenzwertigen Kompromissen versucht, der Lage Herr zu werden. Und dann schwebt da der Mann im weißen Gewand ein, wirft Kränze ins Meer und verschwindet fünf Stunden später wieder, mit zwölf Menschen an Bord. Ist das die Lösung der Krise, ein Konzept, eine Strategie?

Nein, der Papst hat kein Konzept nach Lesbos mitgebracht oder gar eine Lösung. Er selber hat, auf dem Flug dorthin, die Lage "komplex" genannt und das Elend der Flüchtlinge die "schlimmste Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg"; wenn das so ist, dann ist es auch klug, sich besserwisserische Forderungskataloge zu verkneifen. Franziskus hat etwas anders gemacht - das, was ein Papst tun kann, ja muss: Er ist, in den Zeichen noch mehr als in den Worten, ins Grundsätzliche gegangen. Er hat für die Toten gebetet, die im Mittelmeer ertranken, auch, weil es keine sicheren Wege in ein menschenwürdiges Leben gab. Er hat mit den Gestrandeten geredet, die an den Zäunen Europas hängengeblieben sind, und zwölf von denen mitgenommen, die von den Mühlen des Elendsmanagements zermahlen zu werden drohten.

Franziskus hat in den fünf Stunden auf Lesbos den Flüchtlingen ihre Gesichter zurückgegeben. Die verlieren sie in dem Maße, wie die Europäer in ihnen die Flut sehen, gegen die es Deiche braucht, das anonyme Problem, die Verschiebemasse. Er hat sich Fluchtgeschichten angehört, gegen die Neigung, die Ohren zu verschließen, weil man ja schon so viele dieser Geschichten gehört hat und der Einzelfall nichts übers Große und Ganze sagt, am Ende gar das eigene Wahrnehmungssystem erschüttert. Und er hat in anarchischer Barmherzigkeit einfach mal zwölf Menschen geholfen - gegen das kleinliche und unbarmherzige Gefeilsche unter den europäischen Staaten, die sich ja tatsächlich darüber in die Haare kriegen, wer dieses Dutzend nimmt und wer jenes.

Das ist eine kleine ökumenische Sensation

Franziskus hat dies bewusst gemeinsam mit seinen orthodoxen Glaubensbrüdern getan. Das ist eine kleine ökumenische Sensation, wenn man bedenkt, wie misstrauisch Orthodoxe lange die Kirchen im Westen beäugten; die Katastrophe im Nahen Osten und das Elend auch vieler Christen hat die Kirchen zusammenrücken lassen. Und dann hat der Papst drei muslimische Familien mitgenommen. Ihm ist egal, was einer glaubt, der Hilfe braucht. "Ecce homo", sagte Pontius Pilatus über den gefolterten und gedemütigten Jesus. Der Papst überträgt das in die Gegenwart: Seht her, ein Mensch.

Der Vatikan hat gesagt, die Papstreise habe rein humanitären, also keinen politischen Charakter. Dabei ist kaum etwas so politisch wie die Frage nach der Menschlichkeit. Die fünf Stunden auf der Flüchtlingsinsel sind ein Statement gegen die Regierungen in Polen, Ungarn oder sonstwo, die sich für besonders christlich halten, wenn sie Zäune gegen die angebliche islamische Invasion errichten. Es ist eine Gardinenpredigt ohne Worte für alle auch in Deutschland, die das harte Herz und den Egoismus als Realismus preisen, die Angst, Vorurteil und Hass schüren und sich dabei noch als Retter des christlichen Abendlandes missverstehen.

Der Vatikan hat damit so viele Flüchtlinge wie Deutschland aufgenommen

Die Reise nach Lesbos ist aber auch eine Herausforderung für alle, die an den notwendigen politischen Kompromissen werkeln, ohne recht wissen zu können, wohin das führt. Sie ist eine Herausforderung für alle, die jene oft unerträgliche Spannung aushalten müssen zwischen dem eigentlich Notwendigen und dem tatsächlich Möglichen: von den Flüchtlingshelfern und Landräten, die über Wohnungen, Integrationskurse und Geld streiten, bis zu den Regierungschefs, die um den Zusammenhalt Europas und den Frieden im Nahen Osten feilschen. Für sie ist der Papst, der mal eben zwölf Flüchtlinge mit nach Hause nimmt, ein Stachel, ein Schmerz: Tun wir genug? Das desavouiert niemanden, der die Pfade des Machbaren sucht. Aber es gibt der Suche eine Richtung: Seht her, der Mensch. Schaut in sein Gesicht, hört seine Geschichte. Und entscheidet dann.

Zwölf Flüchtlinge beginnen nun ein neues Leben. Nur zwölf? Das Wesen des Vergleichs ist, dass er hinkt, aber: Der Vatikan hat um die 800 Bürger, Deutschland um die 80 Millionen. Die zwölf sind, rechnet man dies hoch, so viel wie die 1,1 Millionen Flüchtlinge, die 2015 nach Deutschland kamen. Auch das ist eine Botschaft dieser spontanen Geste des Franziskus.

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