Flüchtlingselend in den USA:Früchte des Sturms

Wie viele Jahre eines Lebens passen in einen Toyota? "Katrina" und "Rita" bringen ein Flüchtlingselend hervor, das Amerika unheimlich ist.

Sonja Zekri

Von Süden kam der Staub in gelben Schwaden, von Norden in dicken, dunklen Wolken, die sich über die baumlosen Ebenen wälzten. Schwarze Blizzards peitschten über das ausgedörrte Land, Jahr um Jahr stieg die Zahl der Stürme. 38 waren es allein 1933.

Die Farmer, die für den Weizenanbau zu tief gepflügt hatten, selbst als der Regen ausblieb und der Staub den Himmel manchmal für Tage verdunkelte, die Farmer schlachteten ihr Vieh, damit es nicht auf den graslosen Weiden verendete. Washington schickte Bohnen, Dosenfleisch und Kleidung und konnte den Exodus doch nicht aufhalten. Die Menschen flohen in Scharen vor der ökologischen Katastrophe. Die "Dust Bowl", die Schüssel voller Staub, war die schlimmste Dürre in der Geschichte der Vereinigten Staaten.

Sie dauerte acht Jahre lang, betraf auf ihrem Höhepunkt 27 Staaten und 75 Prozent des Landes, und den folgenden Zug des Elends durch die Sahelzone der Southern Plains hat keiner so drastisch beschrieben wie John Steinbeck in "Früchte des Zorns": "Dann wurden die Verdrängten westwärts getrieben, aus Kansas, Oklahoma, Texas, New Mexico; aus Nevada und Arkansas, Familien, Stämme. Wagenladungen, Wohnwagen, heimatlos und hungrig, zwanzigtausend und fünfzigtausend und hunderttausend und zweihunderttausend. Sie strömten über die Berge - unruhig wie Ameisen, flitzen umher auf der Suche nach Arbeit - nach irgendetwas zu heben, zu schieben, zu ziehen, zu pflücken, zu schneiden - ganz gleich was, eine Last zu tragen, egal, wie schwer, für Essen. Wir haben keinen Platz zum Leben. Flitzen umher wie Ameisen auf der Suche nach Arbeit, nach Essen, und vor allem nach Land."

Das ist siebzig Jahre her. Und seitdem, seit Franklin D. Roosevelt die Steppen wieder hat aufforsten lassen und die Depression mit dem New Deal überwand, seitdem hat Amerika nicht mehr ein solches Flüchtlingselend gesehen. Bis jetzt.

Seit Tagen sind in Texas und Louisiana die Highways verstopft, weil zwanzigtausend und hunderttausend und zweihunderttausend vor dem Hurrikan Rita fliehen. Mehr als zwei Millionen Menschen haben alles aufgegeben, kriechen mit fünf Meilen pro Stunde über die Autobahn in Luxusjeeps, die plötzlich nicht länger fröhliche Freizeitlimousinen sind, sondern Transportmittel, von denen Leben oder Tod abhängen.

Kampf um den letzten Platz

Sie bleiben mit leeren Tanks liegen, kampieren nachts auf Decken neben der Interstate. Sie kämpfen um den letzten Platz im letzten Flugzeug aus Hobby Airport oder Bush Intercontinental Airport in Houston und lassen Geisterstädte zurück wie Galveston, wo vor mehr als 100 Jahren Tausende in einem anderen Sturm starben.

Mehr als 20 Menschen sind am Freitag in einem explodierenden Bus gestorben. Die verstopften Straßen seien "Todesfallen", hat Houstons Bürgermeister Bill White gewarnt. Wer bis Freitag noch in der Stadt war, würde es nicht mehr schaffen. Die Nasa hatte das Raumfahrtzentrum in Houston schon vorher evakuiert.

Amerika hat viele Stürme erlebt, vor Rita und auch vor der "Dust Bowl", schon oft haben Hurrikane und Tornados Menschen heimatlos gemacht. Aber der eskalierende Rhythmus von Hurrikanen mit neuen Routen und nie gekannter Stärke, mitausgelöst durch die von Menschen verursachte Erwärmung der Ozeane, hat ganze Regionen entvölkert.

Nullpunkt des amerikanischen Traums

Das Land ist in Bewegung geraten, und es kommt nicht mehr zur Ruhe. Die Flüchtlinge aus New Orleans, die in Texas Unterschlupf gefunden haben, sind auch dort nicht mehr sicher und schon wieder aufgebrochen. Zweimal haben sie alles hinter sich gelassen, zweimal alles verloren. Sie haben den Nullpunkt des amerikanischen Traums erreicht.

Nach Katrina kürte der Bildchef einer großen französischen Zeitung eine der vielen Aufnahmen zur Fotografie der Woche. Er wählte eine unspektakuläre Szene, die Ausgabe von Lebensmitteln, die allerdings - und das war neu - auf den ersten Blick gar nicht in Amerika hätte aufgenommen werden müssen.

Weiße, uniformierte Katastrophenhelfer, die Essen an abgerissene Schwarze mit verlorenem Blick verteilen, dieses Motiv gehört zum Kanon der Berichterstattung aus den Elendsgebieten der Dritten Welt. Auf der Aufnahme war die Weltmacht zum Schwellenland geworden.

Flüchtlinge sind Indikatoren für Instabilität. Sie sind Bewegungsmelder für Verheerungen, wie sie der größte Teil Europas seit den Nachkriegsjahren nicht mehr erlebt hat. Weltweit, so schätzen die UN, sind 25 Millionen Menschen Vertriebene im eigenen Land - die Binnenmigration übersteigt die Wanderung zwischen den Ländern bei weitem -, und die Hälfte von ihnen sind Afrikaner.

Sie fliehen vor Kriegen, Armut, Dürren, fliehen von Darfur in den Tschad, aus dem Kongo nach Tansania. Allein in Angola, Sierra Leone, Liberia, Sudan, Eritrea, Somalia, Burundi, Ruanda und der Demokratischen Republik Kongo leben fünf Millionen Flüchtlinge, was die nicht eben wohlhabenden Länder - der Norden vergisst das gern - vor riesige Probleme stellt.

Fremd in einem fremden Land

Jene Menschen, die mit einem Bündel auf dem Kopf zu Fuß durch die Savanne laufen, haben wenig gemeinsam mit den Texanern in den klimatisierten SUVs, aber sie teilen die Erfahrung des Verlustes. Wie viele Jahre eines Lebens passen in einen Toyota?

Wie viele Erinnerungen in zwei Koffer? Dies ist nicht das kontrollierte Nomadentum der Pendler und Aufsteiger, sondern die überstürzte Flucht von Menschen, die von nun an genährt und gekleidet werden wollen, die irgendwann zurückkehren und vom Staat Hilfe beim Wiederaufbau erwarten. Es wird Jahre dauern, bis alle wieder einen Platz gefunden haben. Es ist eine beunruhigende, schwer beherrschbare Mobilität.

Ein wenig vom Unbehagen mit diesen ungewohnten Szenen schien auf im Streit über den Begriff selbst. Bürgerrechtler wie Jesse Jackson und Al Sharpton kritisierten das Wort "refugee" für die Katrina-Opfer: "Sie warten nicht auf Almosen. Sie sind Opfer der Vernachlässigung und einer Situation, in die sie nie hätten gelangen dürfen", so Sharpton.

"Evakuierte" sei besser oder "Überlebende". "Flüchtlinge" aber raube ihnen die Würde: "Sie sind keine Flüchtlinge, sondern Bürger der Vereinigten Staaten."

Dass ein Flüchtling nur sein kann, wer die Landesgrenze überschreitet, ist die eine Logik hinter dieser Kritik. Die andere ist fundamentaler: Ein Amerikaner flieht nicht. Und dies nicht, weil er leidensfähiger wäre als andere Menschen, sondern weil seine Heimat sicherer ist als andere.

Dem Flüchtling ist das Vertrauen in die Heimat abhanden gekommen, sein Land ist ihm zum Feind geworden. Das haben in diesem Maßstab weder der 11. September geschafft noch alle Terrordrohungen seitdem - aber Katrina und Rita.

Mit spürbarem Ekel hatte Mike Pesca vom National Public Radio in seinem Internettagebuch die schmutzigen, stinkenden Zurückgebliebenen in New Orleans geschildert: "Die Rettungskräfte berührten sie nur widerwillig, niemand wollte zwischen ihnen stehen."

An Haiti, an das Kosovo habe er denken müssen: "Diese Menschen waren keine Evakuierten, sie waren irgend etwas anderes." Und Jon Donley schrieb in seinem Weblog: "Gestern sah ich eine Gruppe von FLÜCHTLINGEN aus New Orleans, die sich um die Alkoholläden bei Albertsons versammelten ... der Bereich wird von einem Stahlkäfig geschützt. Es war Sonntag, und in Baton Rouge wird am Sonntag kein Alkohol verkauft. Niedergeschlagen rüttelte die Menge an den Stäben, wimmerte um Nahrung ... Das Grauen. Das Grauen...Wir sind Fremde in einem fremden Land."

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: