Süddeutsche Zeitung

Flüchtlingsdrama im Mittelmeer:Tragödie kurz vor der Rettung

  • Wieder ist ein Flüchtlingsboot vor der Küste Libyens gekentert. Hilfsorganisationen rechnen mit Hunderten Toten.
  • Der Andrang von Flüchtlingen, die versuchen über das Meer von Libyen nach Italien zu gelangen, ist so hoch wie noch nie.
  • Menschenrechtler kritisieren die Seenrotrettungsmission der EU als nicht ausreichend.

Von Paul-Anton Krüger, Kairo

Nachdem vor der Küste Libyens erneut ein Boot mit Hunderten Flüchtlingen gekentert ist, schwindet die Hoffnung, Überlebende zu finden. Trotz einer sofort eingeleiteten Rettungsaktion, an der sich am Abend sieben Schiffe beteiligten, rechneten die Rettungskräfte und die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) mit vielen Toten. Es sei "der Verlust vieler Leben" zu befürchten, sagte der Kommandant des irischen Hochsee-Patrouillenboots Lé Niamh, das dem Boot zur Hilfe eilen wollte, der BBC.

Nach Angaben der italienischen Küstenwache waren bis zum Abend etwa 400 Menschen aus dem Wasser gerettet worden; 25 Flüchtlinge konnten nur noch tot geborgen werden. Nach Aussagen von Überlebenden sollen sich auf dem Fischerboot allerdings 600 bis 700 Menschen befunden haben. Die meisten von ihnen waren auf der Flucht vor dem syrischen Bürgerkrieg.

Das Boot war etwa 25 Kilometer vor der Küste Libyens in Seenot geraten und hatte einen Notruf abgesetzt. Dieser war von der italienischen Küstenwache in Sizilien aufgefangen worden, die eine Rettungsaktion auslöste. Als das 80 Meter lange irische Marineschiff sich dem Flüchtlingsboot näherte und Rettungsboote zu Wasser ließ, drängten die Menschen offenbar auf eine Seite des Kutters, der daraufhin kenterte.

Immer wieder geschehen auf diese tragische Weise schwere Unglücke, wenn die Rettung eigentlich naht. Oftmals sind die Schiffe derart überladen, dass sie bereits kentern, wenn nur einige Menschen gleichzeitig aufstehen, sagte ein Vertreter der Küstenwache.

Vermutlich 100 Menschen im Rumpf des Bootes

Die Sprecherin des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR), Melissa Fleming, sagte, vermutlich hätten sich im Rumpf des Bootes noch 100 Menschen aufgehalten; es sei zudem sehr schnell gesunken - offenbar war es aus Metall gebaut und nicht wie viele der kleineren Boote aus Holz.

Ähnlich äußerte sich die Besatzung des von der Organisation Ärzte ohne Grenzen gecharterten Such- und Rettungsbootes Dignity 1, das an der Unglücksstelle eintraf, als der Kutter bereits gekentert war. Viele Flüchtlinge können zudem nicht schwimmen und die Schlepper statten sie oft nicht mit Schwimmwesten aus - oder nur wenn sie dafür bezahlen.

Menschenrechtler kritisieren Rettungsmission

Im April war ein Boot mit bis zu 800 Flüchtlingen an Bord gesunken. Das Unglück wurde zu einem Symbol der Flüchtlingskrise im Mittelmeer. Daraufhin beschlossen die Staats- und Regierungschefs der EU auf einem Sondergipfel, die von der EU-Grenzschutzagentur koordinierte "Operation Triton" von 30 Seemeilen vor der Küste bis in die Nähe der libyschen Gewässer auszuweiten. Auch wurden zusätzliche Flugzeuge und Schiffe für Rettungsaktionen bereitgestellt. Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen kritisieren aber, dass sie immer noch nicht an die von der italienischen Marine verantwortete Seenotrettungsmission "Mare Nostrum" heranreicht.

Die Regierung in Rom hatte diese im Oktober 2014 eingestellt, weil sie sich mit dem Ansturm von Flüchtlingen von den anderen EU-Staaten alleingelassen fühlte und sich mit ihrer Forderung nach einer gleichmäßigen Verteilung der Menschen auf alle EU-Staaten nicht durchsetzen konnte.

Nirgends sterben so viele Flüchtlinge wie im Mittelmeer

Der Ansturm auf die Fluchtroute über das Mittelmeer ist wegen der chaotischen Verhältnisse in Libyen ungebrochen und so stark wie nie. Insgesamt wagten sich laut der der Internationalen Organisation für Migration (IOM) seit Januar 188 000 Menschen auf die gefährliche Überfahrt nach Europa. Die meisten Flüchtlinge kommen in Griechenland und in Italien an.

Libyen ist für sie das wichtigste Transitland aus den Krisengebieten des Nahen Ostens, zuvorderst Syrien und Irak. Aber auch viele Menschen aus Westafrika und teils aus Asien versuchen, auf diesem Weg nach Europa zu kommen.

Zugleich ist dies die gefährlichste Route: Nirgends sterben so viele Flüchtlinge wie im Mittelmeer. Im vergangenen Jahr kamen dort laut der IOM mehr als 3000 Menschen ums Leben. In diesem Jahr sind es demnach bereits mehr als 2000. Die tatsächlichen Zahlen dürften noch höher liegen, weil nicht jedes Unglück vor allem mit kleineren Booten bemerkt wird.

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