Flüchtlinge im Mittelmeer:Grenzschützer sprechen von "neuem Grad der Grausamkeit"

  • Die italienische Küstenwache hat die Kontrolle über das Schiff übernommen, das mit etwa 450 Flüchtlingen an Bord führerlos im Mittelmeer trieb.
  • Es ist die zweite Beinahe-Katastrophe dieser Art im Mittelmeer vor Italien innerhalb von drei Tagen.
  • Die EU-Grenzschutzagentur Frontex befürchtet, dass solche "Geisterschiffe" häufiger auftauchen - und warnt vor einem "neuen Grad der Grausamkeit".

Frontex spricht von einem "neuen Grad der Grausamkeit"

Mit "Geisterschiffen" im Mittelmeer, die ohne Besatzung und vollgepfercht mit Flüchtlingen ihrem Schicksal überlassen werden, zeigen Schleuserbanden nach Ansicht der EU-Grenzschutzagentur Frontex "einen neuen Grad der Grausamkeit". "Das ist eine neue Erscheinung dieses Winters", sagte eine Frontex-Sprecherin.

Auch die Vereinten Nationen warnen nach dem erneuten Rettungseinsatz auf einem führungslosen Flüchtlingsschiff im Mittelmeer vor einer neuen Taktik der Schleuser-Banden. In den vergangenen zwei Monaten seien verstärkt alte Frachter ohne elektronische Hilfsmittel eingesetzt worden, um Flüchtlinge nach Europa zu bringen, sagte eine Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks. Die Schleuser seien nach Einschalten des Autopiloten in kleinen Booten geflohen und hätten die Menschen an Bord ihrem Schicksal überlassen. Hintergrund sei das Ende des italienischen Hilfseinsatzes "Mare Nostrum", wodurch eine Überfahrt der Flüchtlinge in kleineren Schiffen gefährlicher werde.

Zuvor hatte die italienische Küstenwache die Kontrolle über ein Schiff übernommen, das mit 450 Flüchtlingen an Bord führerlos im Mittelmeer trieb. Es war das zweite Mal innerhalb weniger Tage, dass ein Flüchtlingsschiff ohne Besatzung vor der Küste des Landes im Mittelmeer entdeckt wurde.

Flüchtling kann Notruf absetzen

Sechs Männer der Küstenwache seilten sich von einem Militärhubschrauber auf die Ezadeen ab und übernahmen die Kontrolle über das 73 Meter lange Handelsschiff, teilte die italienische Marine mit. Das unter der Flagge von Sierra Leone fahrende Schiff mit Frauen und Kindern an Bord befand sich demnach 37 Kilometer vor der Küste von Crotone in der süditalienischen Region Kalabrien.

Die Schlepper der Flüchtlinge hatten das Schiff verlassen und die Insassen ihrem Schicksal überlassen. Einem Einwanderer an Bord gelang es, den Bordfunk anzuschalten und die italienische Küstenwache darüber zu informieren, dass die Crew von Bord gegangen sei.

Gefunden wurde das Schiff schließlich von einem Flugzeug der Küstenwache, da bewegte es sich mit sieben Knoten auf die Küste zu. Es wäre auf die Küste geprallt, ihm sei aber der Treibstoff ausgegangen, zitiert die Nachrichtenagentur Reuters einen Sprecher der Küstenwache.

Maschinen sollen ausgefallen sein

Nach Angaben der Armee fielen die Maschinen an Bord aus, außerdem erschwerten Unwetter die Rettung der Flüchtlinge. Die Küstenwache rief ein isländisches Patrouillenboot zur Hilfe, das in der Nähe im Einsatz war, doch deren Besatzung konnte wegen des schlechten Wetters nicht an Bord gehen. Die italienische Luftwaffe schickte schließlich den Helikopter zu dem Schiff. Wegen des Wetters könne das Handelsschiff "nur aus der Luft bestiegen" werden, erklärte die Armee.

Zuvor entkam führerloser Frachter knapp einer Katastrophe

Erst am Mittwoch waren fast 800 Menschen auf einem führerlosen Frachter vor Süditalien nur knapp einer Katastrophe entgangen. Ohne die Einsatzkräfte wäre der Frachter wohl auf die apulische Küste geprallt, weil das Schiff sich selbst überlassen war, wie ein Sprecher der Küstenwache sagte. Von der Besatzung fehlte auch dort jede Spur.

Schon immer seien die internationalen Schleuserbanden rücksichtslos und menschenverachtend gewesen und hätten den Tod von Flüchtlingen auf Booten von Afrika nach Europa in Kauf genommen, erklärte nun die Sprecherin von Frontex. "Wenn ein nicht seetüchtiges Schiff, das völlig überladen ist, in Seenot gerät, haben die im Lagerraum eingeschlossenen Menschen keine Chance."

"Das ist ein Multimillionengeschäft", sagte die Sprecherin über den Schmuggel von Flüchtlingen, die auf eine bessere Zukunft in Europa hoffen. "Aus jedem dieser Flüchtlinge werden mehrere tausend Euro oder Dollar für den Transport auf See gepresst. Da lässt sich leicht ausrechnen, wie viel bei einem Schiff mit mehreren hundert Menschen zusammenkommt." Für die Schmuggler lohne sich daher die Rechnung, wenn ein ohnehin bereits ausgemustertes Schiff ohne Crew und Treibstoff auf dem Meer zurückgelassen werde.

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