Flucht vor Zwangsheirat im Jemen:"Ich würde lieber sterben"

Nada Al-Ahdal ist elf Jahre alt, als ihre Familie sie zur Ehe mit einem älteren Mann zwingen will. Doch sie läuft weg, schildert ihre Geschichte auf Youtube - und wirft damit ein Schlaglicht auf Mädchenschicksale, wie sie im Jemen alltäglich sind.

Von Carina Huppertz

Es sind vor allem ihre Augen, die fesseln. Riesengroß, braun, fest auf die Kamera gerichtet. Es wirkt, als verliere Nada Al-Ahdal den Zuschauer nicht eine Sekunde aus dem Blick. Knapp drei Minuten lang redet sie, durchdringend und ernst.

Nada al-Ahdal ist elf Jahre alt. Wäre es nach dem Willen ihrer Eltern gegangen, würde sie jetzt verheiratet sein. Mit einem älteren Mann, den sie noch nie gesehen hat, so erzählt sie es in einem Internetvideo. Aber das Mädchen aus dem Jemen konnte zu ihrem Onkel fliehen.

Ihre Eltern sollen Nada mit dem Tod gedroht haben, wenn sie nicht heiraten wolle. Ihr Blick ist herausfordernd, fast trotzig, als sie sagt: "Da bin ich besser dran, wenn ich tot bin. Ich würde lieber sterben." Nach der Flucht zu ihrem Onkel habe sie gegen ihre Mutter Anzeige erstattet, sagt die Elfjährige. Bei ihren Eltern wolle sie auf keinen Fall mehr leben. "Meine Mutter, meine Familie, sie alle können mir glauben, wenn ich sage - ich bin fertig mit euch. Ihr habt meine Träume zerstört."

Die Väter brauchen Geld

Wenn es stimmt, was Nada erzählt, hat sie in ihrem kurzen Leben Dinge erlebt, die vielleicht eine Erklärung sind, warum sie schon redet wie eine Erwachsene. "Meine Tante wurde mit 14 verheiratet. Sie hielt es ein Jahr lang aus, dann übergoss sie sich mit Benzin und zündete sich an. Er hat sie mit Metallketten geschlagen, er hat getrunken," berichtet sie.

Nada ist seit ihrem dritten Lebensjahr bei ihrem Onkel, Abdel Salam al-Ahdal, aufgewachsen, schreibt das in Beirut angesiedelte Informationsportal NOW, das nach eigenen Angaben mit al-Ahdal gesprochen hat. Sie ging zur Schule, spielte in Musicals mit und lernte in den Ferien Englisch. Bereits vor knapp einem Jahr wollten ihre Eltern sie verheiraten - ein reicher Jemenit, der in Saudi-Arabien lebt, soll um ihre Hand angehalten haben. Den Eltern hätte er ein Brautgeld gezahlt.

Nadas Onkel redete dem zukünftigen Bräutigam die Hochzeit aus, indem er schlechte Dinge über das Mädchen erzählte, berichtet NOW. Aber es gab einen zweiten Anwärter. Aus Angst, er könne die Heirat wieder sabotieren, erzählten Nadas Eltern ihrem Onkel nichts davon, sondern baten ihn, dass ihre Tochter die Zeit des Ramadan bei ihnen verbringen dürfe. Als ihre Eltern sie wenige Tage später zur Heirat zwingen wollten, flüchtete sie und versuchte, zurück zu ihrem Onkel zu gelangen.

Zwangsheirat für weltweit täglich 39.000 Mädchen

"Ich hätte kein Leben, keine Ausbildung. Haben sie denn kein Mitgefühl?", fragt die Elfjährige in ihrem Video. Sie ist glücklich, der Ehe entkommen zu sein, aber sie weiß, dass sie ein Einzelfall ist. "Ich konnte mein Problem lösen, aber einige unschuldige Kinder können das nicht", erklärt sie. "Ich bin nicht die Einzige. Es kann jedem Kind passieren."

Ob Nada diese Geschichte wirklich erlebt hat, ist schwer zu überprüfen. Einige Internetnutzer kritisieren, sie wirke, als habe sie den Text auswenig gelernt. Auch dass ihr Onkel laut NOW bei einem Fernsehsender arbeiten soll, weckt Misstrauen, ebenso die Tatsache, dass das Video von der umstrittenen Beobachterorganistation Middle East Media Research Institute (MEMRI) übersetzt und online gestellt wurde, der im Umgang mit islamischen Themen mangelnde Objektivität vorgeworfen wird. Doch unabhängig davon, ob das Video authentisch ist oder nicht - solche oder so ähnliche Schicksale gibt es täglich tausendfach im Jemen, und die wenigsten Kindbräute können fliehen.

2010 hatte der ungewöhnliche Fall einer Achtjährigen international für Diskussionen gesorgt. Nujood Nasser flüchtete vor ihrem 22 Jahre älteren Mann, der sie schlug und vergewaltigte, und erkämpfte sich vor Gericht ihre Scheidung. Im gleichen Jahr starb eine 13-Jährige vier Tage nach ihrer Zwangsheirat mit einem älteren Mann an einer Vaginalblutung. Und 2012 wurde die Fotografin Stephanie Sinclair mit dem World Press Photo Award ausgezeichnet, für ein Bild von zwei jemenitischen Kinderbräuten mit ihren Männern.

Gewalt und Unterdrückung sind Alltag

Geändert hat sich nach den Vorfällen nichts. Im Jemen können Mädchen jeden Alters heiraten und verheiratet werden. Ein Gesetzentwurf, der ein Mindestalter von 17 Jahren für Eheschließungen einführen sollte, wurde 2010 abgelehnt. Laut der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch heiraten 52 Prozent aller jemenitischen Mädchen, bevor sie 18 sind. Zwar gibt es ein Gesetz, das Sex vor der Pubertät des Mädchens verbietet. Der Fall von Nujood zeigt aber, dass es fraglich ist, dass dieses Gesetz befolgt wird.

Wenn die Mädchen verheiratet sind, erhalten viele keine Schulbildung und lernen weder Lesen noch Schreiben - sie bleiben "Zweite-Klasse-Bürger", so Human Rights Watch. Mutter- und Kindessterblichkeitsraten sind hoch, weil viele Mädchen bereits Kinder bekommen, wenn sie selbst noch minderjährig sind und wenig über ihren Körper wissen. Laut dem Bericht werden die jungen Ehefrauen außerdem oft von ihren Männern beleidigt und geschlagen, sie haben kaum Möglichkeiten zu entkommen.

Die Weltgesundheitsorganisation veröffentlichte im März eine Studie, nach der weltweit täglich 39.000 Mädchen unter 18 verheiratet werden. Das sind mehr als 14 Millionen im Jahr. Die WHO prognostiziert, dass von heute bis 2020 140 Millionen Minderjährige verheiratet werden, 50 Millionen davon werden nicht einmal 15 Jahre alt sein. Zudem befürchtet die Organisation, dass die schnell wachsenden Bevölkerungszahlen in Entwicklungsländern das Problem noch verschärfen werden.

In einer Nachricht an NOW soll Nada geschrieben haben: "Lasst mich meine Träume verwirklichen. Ich will zur Schule gehen, ein Star werden und anderen Kindern helfen." Zumindest das mit dem Star werden hat geklappt: In den zwei Tagen, seit dem ihr Video auf Youtube hochgeladen wurde, haben es schon mehr als 4,5 Millionen Menschen angesehen.

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