Süddeutsche Zeitung

Flucht aus Syrien:Fünftausend Kilometer Angst

Sadik wartet noch immer auf die Tickets. Der Verkäufer hinter dem Ticketschalter fragt auf Englisch "Haben Sie auch einen Pass? Nicht für mich, aber falls sie kontrolliert werden." "Ja", sagt er.

Neben ihm steht, grauhaarig, ein anderer Syrer, Issa, und richtet den Blick an die weiße Decke mit den Neonröhren. "Inschallah", sagt er leise. "So Gott will." Schließlich überreicht der Verkäufer die Tickets und entschuldigt sich für die Verzögerung. "Der Drucker hat gesponnen."

Fünf andere Syrer schließen sich Sadik und Edis an. Jeder hat einen anderen Wunsch, der sich in Deutschland erfüllen soll. Yassin will einen Master in Jura machen. Er ist 21 Jahre alt. Sein Bruder, Farid begleitet ihn. Mahmoud wurde in einem syrischen Gefängnis das Bein gebrochen. Er humpelt leicht und hofft auf eine Operation. Die Frau von Issa lebt im Libanon. Er will sie nachholen, sobald er Asyl bekommen hat. Sein jüngstes Kind hat er noch nie gesehen.

Es ist Freitagmorgen. Sadik hat mit dem Handy eines Freundes seine Mutter angerufen. "Sie hat nur geweint. Ich habe ihr gesagt, dass es mir gutgeht." Eine Lüge.

Die Männer heben ihr Gepäck von einer Marmorbank. Manche haben nur eine Plastiktüte dabei. Sadik und Edis tragen eine Reisetasche. Tief unter der Kleidung haben sie ihren Schatz vergraben: ein Glas mit syrischem Honig. "Der hilft bei Hunger und Heimweh", sagt Sadik. Doch an Essen mag er gerade nicht denken. "Wenn ich Angst habe, kriege ich nichts runter."

Im Zug ist fast jeder Platz besetzt. Die Gruppe hat zwar reserviert, doch Sadik und Edis sind die Einzigen, die zusammensitzen können. Sadik wippt nervös mit dem Bein. Die Brüder teilen ihr Geld auf, für den Fall, dass sie getrennt werden. Jeder bekommt 100 Euro.

Der Zug rollt langsam aus dem Bahnhof. Eine ältere Dame strickt am Kragen eines lilafarbenen Pullovers. Vorsichtig nimmt sie mit der Nadel die Maschen auf. Daneben sitzt ein Pfarrer, der hinter seiner vorgehaltenen Mütze am Handy spricht. Sadik und Edis starren aus dem Fenster. Wenn sie reden, dann nur leise. Doch bis Verona kommt nicht mal ein Schaffner, um die Fahrkarten zu kontrollieren.

Der Zug hält auf Gleis vier. Direkt gegenüber soll der EC nach München abfahren, in zwei Stunden.

Die Männer unterhalten sich und träumen von der neuen Heimat. "Wo sind die besten technischen Unis in Deutschland?", fragt Sadik und beißt in ein Käsebrot. Sein Appetit ist zurück. "Wo kann ich Jura studieren?", fragt Yassin. Er würde gerne in Deutschland heiraten, sagt er. "Ich würde für meine Frau kochen, die Teller waschen, kein Problem." Er lacht und lacht. Die Sonne scheint ihm ins Gesicht.

Dann kommt die Angst zurück. "Ich habe gehört, dass es in München ein Lager für Syrer gibt, aus dem ich nicht mehr raus kann", sagt Issa. "Ich muss es nach Deutschland schaffen. Ich habe nur noch 150 Euro." Er führt den Zeigefinger zum Mund und dann zur Stirn, schaut hinauf zum Himmel. "Inschalla", sagt er.

Yassin spielt auf seinem Handy Candy Crush, um sich abzulenken. Sein Bruder läuft das Gleis rauf und runter. Sadik macht Inventur. Aus seiner Jackentasche holt er seinen syrischen Pass, das Ticket, sein zerknittertes Diplom, einen Keks mit Kirschfüllung und eine Packung Zucker.

Noch eine Stunde bis der Zug fährt.

Sadik zeigt Bilder von seinem Facebookprofil. Sie zeugen von seinem Leben vor der Flucht. Sadik in Badehose auf einem gelben Felsen sitzend, unter ihm das Meer. "Das ist Latakia, da war ich mit Freunden schwimmen." Ein anderes Bild zeigt Sadik im Fitnessstudio, beim Klimmzug. Die Muskeln bilden riesige Beulen. "Jeden Tag war ich im Fitnessstudio. Ich war richtig stark." Sadik bläst die Backen auf. 15 Kilo hat er auf der Flucht verloren.

Langsam schiebt sich der Zug an das Gleis heran. Die Männer greifen nach ihren Taschen, Mahmoud humpelt voran.

Wieder ein Großraumabteil, wieder sitzen nur die Brüder zusammen. Edis setzt sich eine Sonnenbrille auf und schläft mit dem Kopf an die Wand gelehnt sofort ein. Sadik schließt die Augen erst als der Pfiff des Schaffners ertönt.

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