In Deutschland werden pro Jahr etwa 750 Millionen Tiere geschlachtet. Rainer Hagencord, 59, ist promovierter Theologe und katholischer Priester, zudem hat er Biologie studiert. Er beschäftigt sich seit 20 Jahren mit dem Verhältnis des Menschen zum Tier, in Münster hat er das Institut für Theologische Zoologie gegründet. Hagencord leitet aus der Bibel ab, dass auch Tiere eine Seele haben und deshalb einen würdevollen Umgang verdienen.
Der Weihnachtsbraten gehört in Deutschland zur Kultur. Was würde Jesus Christus zu diesem Brauch sagen?
Jesus von Nazareth liebte es zu feiern, aber lehnte jede Art von Gewalt ab. Da frage ich mich, warum Gewalt gegen Tiere völlig selbstverständlich ist. Und wieso just an Hochfesten unseres Glaubens die Schlachthöfe hochgefahren werden. Da komme ich nicht mehr mit. Auch nach den Corona-Ausbrüchen unter den schlecht bezahlten Mitarbeitern in vielen Schlachtfabriken verstehe ich überhaupt nicht mehr, wieso kein Ruck durch die Gesellschaft und die Kirchen geht und munter weiter Fleisch gekauft wird.
Wie steht die christliche Theologie zum Thema Tierschlachtung und Fleischverzehr?
Große Propheten im Alten Testament wollten allesamt an einen Gott glauben, der Barmherzigkeit will und keine Opfer. Schon zu Beginn sind Tiere in der Bibel die ersten gesegneten Geschöpfe, sie werden mit dem Menschen zusammen am sechsten Tag erschaffen. Sie bleiben nach dem vermeintlichen Sündenfall im Garten Eden, sind Bündnispartner Gottes nach der großen Sintflut, sind Lehrer für Bileam, Hosea, Hiob und letztlich auch für Jesus. Doch die heutige Theologie hat die Tiere vergessen.
Wie kommt das?
Es gab in der Geistesgeschichte Europas mehrere Epochen, in der die Natur abgewertet wurde. In der Aufklärung etwa treten Denker wie Descartes und Kant auf, die die Größe des Menschen und seiner Freiheit betonen. Aber sie taten es auf Kosten der Tiere. Descartes formuliert einen Dualismus, in dem nur der Mensch eine vernunftbegabte Seele besitzt, die Tiere hingegen sind seelenlose Automaten. Hier setzt sich die Vivisektion durch, man hat Tiere bei lebendigem Leibe aufgeschnitten. Descartes sagt dazu: Ob eine Tür quietscht oder ein Hund jault, das sei das gleiche. Es sei nur Mechanik. Wenn heute Agrarindustrielle sagen, Schweine seien Rohstoffe, ist das Descartes pur. Und die Theologie folgt dem.
Gibt es innerhalb der katholischen Kirche Bewegungen, die Gewalt gegen Tier anders zu interpretieren?
Gott sei Dank tut sich was. Die Enzyklika "Laudato si'" von Papst Franziskus aus dem Jahr 2015 ist in vielerlei Hinsicht ein Paradigmenwechsel. Er sagt: Unsere Schwester Erde schreit auf, aufgrund der Schäden, die wir ihr zufügen. Es ist ein Aufruf an alle Gläubigen, diesen Schrei zu hören und alles für eine Besserung zu tun. Der Papst interpretiert den biblischen Satz "Macht Euch die Erde untertan" um in "Macht Euch der Erde untertan". Dann spricht er an vielen Stellen vom Eigenwert aller Geschöpfe, auch der Tiere und Pflanzen, die nicht unseretwegen da sind. Ich hätte nicht gedacht, dass ich einmal eine solche Enzyklika lesen darf. Leider haben die Machthaber in den Kirchen Europas kaum etwas davon übernommen.
Seit wann hören katholische Kirchenleute nicht mehr auf den Papst?
Das ist für mich die große Irritation. Wenn wir uns nicht jetzt an die Erzählung der Arche Noah erinnern, wann dann? Wir müssen die Tiere retten und Menschen des Friedens werden, um das große Artensterben zu verhindern. Wir brauchen eine ökologische Spiritualität. Das ist die Spur, die Papst Franziskus gelegt hat. An der Basis kommt das nach und nach an. Ich höre Religionslehrerinnen, Katecheten und Studierende, die eine andere Theologie fordern. Von einer hierarchisch verfassten und männlich dominierten Kirche ist nichts zu erwarten. Dort, wo Frauen oder generell Eltern mitbestimmen, sieht die Welt anders aus.
Sie leben und praktizieren im Münsterland, ein Zentrum der deutschen Viehhaltung. Wie passen Sie in diese Gegend?
Bei vielen Landwirten in der Gegend bin ich ein rotes Tuch. Ich sage zwar nichts Neues, aber ich sage es als katholischer Priester und das ist für viele Menschen hier, die sich als sehr katholisch verstehen, ein unfassbarer Angriff. Das macht mir auch sehr zu schaffen. Zuletzt kam ich mit einer Tierhalterin ins Gespräch, sie hat mir teils zugestimmt, mir aber auch gesagt: "Wenn ich mit der Vorstellung, meine Schweine haben eine Würde, in den Stall gehe, kann ich die Arbeit nicht mehr machen. Aber ich muss sie machen." Ich kenne sehr viele in der Branche, die seelisch und psychisch krank werden.
Landwirte sagen, sie mögen ihre Tiere, aber sie können die Haltung nicht ändern, weil sie sonst pleitegehen.
Das ist die Frucht einer völlig falschen Politik der vergangenen 15 Jahre. Es herrscht eine unheilige Allianz von Bauernverband und Landwirtschaftsministerium. Ministerin Julia Klöckner ist fast schon eine Karikatur, die sich nicht schämt, Großkonzernen öffentlich für angeblich gesunde Lebensmittel zu danken. Und die auch jetzt wieder alle Vorgaben für wirksamen Insektenschutz verhindern will. Der Bauernverband sagt den kleinen Landwirten seit Jahren, sie müssen wachsen, wachsen, wachsen. Diese nehmen Kredite auf, verschulden sich und hängen in der Spirale fest. Ich sehe hier keinen Ausweg.
Für die Nachkriegsgeneration war es eine Errungenschaft, täglich Fleisch auf dem Teller zu haben. Wie kommt die Gesellschaft aus diesem Dilemma?
Der Realist in mir sagt, wir brauchen auch künftig Landwirtschaft, Tierhaltung, Kulturlandschaft. Doch dann sehe ich, dass 98 Prozent unserer Fleisch- und Wurstprodukte aus der industriellen Tierhaltung kommt. Ein System der strukturellen Sünde, in dem fast alle verlieren: die Tiere, die Artenvielfalt, das Grundwasser, die Böden, unsere Gesundheit, kleine und mittelständische landwirtschaftliche Betriebe. Gewinner sind neben der Pharmaindustrie die Fleischbarone hier und im Amazonas, woher das Soja kommt.
Aus Ihnen spricht Verzweiflung und Aussichtslosigkeit. Wie lautet Ihre Prognose für die kommenden Jahre?
Der Klimawandel ist weit fortgeschritten, das Artensterben dramatisch. Und statt "Ökologie vor acht" heißt es im Fernsehen weiter "Börse vor acht", was mir sagt: Wir glauben weiterhin, dass es der Fortschritt schon irgendwie regeln wird. Aber das ist ein Trugschluss. Deshalb ist das Einzige, was mir bleibt, konkrete Lebensräume zu erschaffen und eine Bildung zu etablieren, in der der Respekt vor allem, was lebt, im Mittelpunkt steht. Hier in Münster bauen wir mit Hilfe von Kooperationspartnern an einer solchen Arche. Damit erlebe ich wieder Glück und Lebensmut.