Süddeutsche Zeitung

Finnland:Liegt ein Walross im Garten

Eigentlich leben die Tiere in der Arktis. Dann taucht eine Walrossdame an der finnischen Ostseeküste auf, und das Land bangt tagelang um sie.

Von Kai Strittmatter, Kopenhagen

Stenas letzter Gastgeber war Jukka Hovila in Kotka, der am Dienstagmorgen in seinen Garten kam und das Teppichklopfgerüst umgeworfen im Gras liegen sah, völlig verbogen dazu. "Ich dachte, da hat uns wohl ein Elch besucht", sagte Hovila der Zeitung Helsingin Sanomat. "Es war aber ein Walross".

Es war eine Walrossdame, um genau zu sein, die da friedlich schlafend unter der Fichtenhecke lag, den Bauch nach oben, die beiden langen, an der Spitze aufeinander zulaufenden Zähne dem Fotografen entgegengereckt. Knapp vier Meter lang und eine Tonne schwer. 150 Meter entfernt vom naheliegenden Fluss, mehr als ein Kilometer weg vom Meer.

Ganz selten verirren sich Walrosse in die Ostsee

Da sollte eigentlich kein Walross sein. Nicht unter Jukka Hovilas Fichtenhecke, nicht in Kotka, ja überhaupt nirgends an der finnischen Ostseeküste. Walrosse leben nicht in der Ostsee, sie leben in arktischen Gewässern. Ganz selten verirrt sich mal eines in die Ostsee. Aber oben im Süden Finnlands konnte sich keiner erinnern, je ein Walross hier gesehen zu haben. Weswegen die fremde Besucherin, als sie erstmals ihr Haupt aus dem Wasser erhob am Freitag vor der Küste vor Hamina, gleich zur Sensation wurde. Und zum Objekt der Spekulation.

Wie hatte das Walross sich bloß hierher verirrt? Bald wurde ein Doktorand in Norwegen aufgetan, Rune Aae, der den Weg der Walrossdame verfolgt hatte vom südwestlichen Norwegen an, wo sie im März gesichtet worden war. Später dann verließ sie die Nordsee, schwamm durch das Kattegat, ließ Schweden links und Dänemark rechts liegen, passierte die Insel Rügen, Polen dann im Juni, später Lettland. Da hatte sich das Walross schon mehrere Spitznamen eingefangen: Luffe in Dänemark, Sten in Schweden, Stena in Lettland. Die meisten finnischen Medien aber ließen das Tier ein Tier sein und schrieben schlicht von Mursu: Walross.

Schreiben aber taten sie. Pausenlos wurden nun die Abenteuer des Walrosses von Journalisten, Schaulustigen, Tierärzten und auch von der Obrigkeit verfolgt und protokolliert. "Das Walross schläft und schnarcht", beobachtete Inspektor Jukka Tylli am Abend von Stenas Landung vor Hamina um 22 Uhr. "Das Walross ist weitergezogen", meldete Kriminalkommissarin Mira Nieminen am Samstag um 13.30 Uhr.

Ein ganzes Land beobachtete die Walrossdame

Dem öffentlich-rechtlichen Sender YLE war es eine eigene Geschichte wert, als der Hobbyfotograf Erkki Syrjäläinen am Ufer des Salmenvirta-Flusses den Ort entdeckte, an dem das Walross sein intensiv riechendes Geschäft hinterlassen hatte. "Ich bekam Kopfweh nach wenigen Minuten", klagte der Fotograf. Am Sonntag dann verfing Stena sich im Netz des Fischers Antero Halonen und versuchte in ihrer Not das kleine Boot zu erklettern, worauf das Boot kenterte und der Fischer samt Ausrüstung baden ging. "Mein erster Schwimmausflug in diesem Sommer", sagte Halonen dem Sender YLE.

Von Anfang an hatte es eine Debatte gegeben, ob man dem verirrten Tier nicht vielleicht helfen müsse, ob es hier überhaupt eine Überlebenschance habe. Experten rieten zunächst ab: Das Walross schien stark genug zu sein. Die Einschätzung änderte sich am Dienstag. Auf den Fotos, die das Walross im Garten des Jukka Hovila zeigen, sieht man, wie Knochen unter der Haut hervorstehen. Die Fettschicht war schon sehr dünn geworden. Stena hatte wohl nicht genug Muscheln gefunden in der Ostsee, 60 Kilo davon kann ein Walross pro Tag fressen.

Die Behörden beschlossen, das Walross zu betäuben und in den Korkeasaari-Zoo zu transportieren, wo es eine Tierklinik gibt. Dort wollte man dem Tier Nahrung zuführen. In der Nacht zum Mittwoch dann erreichte die Öffentlichkeit ein Tweet des Zoos: "Die Strapazen der letzten Tage und des Transports waren zu viel für das geschwächte Tier". Stena war auf dem Weg in die Klinik gestorben.

Es gebe "keine Pläne, eine Beerdigung für das Walross zu organisieren", meldet YLE. Eine Autopsie ist geplant. Haut und Knochen des Tieres würden möglicherweise einem Naturhistorischen Museum übergeben.

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