Mouctar Bah weiß, dass der Leichnam kein schöner Anblick sein wird. Trotzdem bittet er das Bestattungsunternehmen, den Sargdeckel abzunehmen. Bah sieht den kahlen Schädel und das rußgeschwärzte Gesicht. Die Finger an der linken Hand fehlen, sie sind vom Feuer abgetrennt worden. Dort liegt sein Freund Oury Jalloh, vor wenigen Wochen in einer Gefängniszelle zu Tode gekommen. Jalloh, so sagt die Polizei, soll sich selbst angezündet haben. Bah hat vom ersten Tag an Zweifel an der Version, nun wächst sein Misstrauen. Wie kann ein solch heftiges Feuer unter Aufsicht von Polizisten entstehen? Was passierte wirklich in der Zelle? Am Sarg schwört Mouctar Bah seinem toten Freund, Antworten auf diese Fragen zu finden.
13 Jahre ist das nun her. Am 7. Januar 2018, dem Todestag von Oury Jalloh, wird Mouctar Bah wie jedes Jahr gemeinsam mit Unterstützern in Dessau demonstrieren. Für sie steht längst fest, dass Jalloh ermordet wurde, möglicherweise von Polizisten, in staatlichem Gewahrsam also, mitten in Deutschland. Eine unglaubliche These, die lange nach Verschwörungstheorie klang. Doch mittlerweile wollen Juristen, Gutachter und Politiker sie nicht mehr ausschließen. Die Zeit hat viele drängende Fragen aufgeworfen. Auf Anweisung des Justizministeriums in Sachsen-Anhalt hat die Generalstaatsanwaltschaft in Naumburg die Ermittlungen an sich gezogen. Nach langem Ringen erhalten auch die Abgeordneten im Landtag Einsicht in die Akten. Sie sollen sechs Umzugskisten umfassen.
Ein Ort der Trauer
Wird der Fall neu aufgerollt, ist das vor allem Mouctar Bah und der von ihm mitbegründeten "Initiative im Gedenken an Oury Jalloh" zuzuschreiben. Bah sitzt auf einem der grauen Bürostühle eines Internetcafés in Dessau. Neben dem 42-Jährigen stehen ein paar Rechner, die Bildschirme sind schwarz. Vorn im zugigen Eingangsbereich verkauft ein junger Mann Waren aus afrikanischen Ländern: Palmöl, Maniokwurzeln, Bananen. Aber auch Sim-Karten für Handys. Ein älterer Herr kommt herein, man kennt sich. Der Junge nennt ihn scherzhaft "Opa". Die Männer lachen. Für sie ist der Laden ein Treffpunkt. Für Mouctar Bah ist es ein Ort der Trauer. Es gibt keinen Grabstein für Oury Jalloh auf dem Friedhof der Stadt. Sein Leichnam wurde nach Sierra Leone überführt, wo Jallohs Familie lebt. Deswegen kommt Bah hierher, wenn er seinem Freund nah sein möchte.
Einst gehörte der Laden Mouctar Bah selbst, 2003 hat er ihn eröffnet. In sein Telecafé kamen vor allem Flüchtlinge, um die Familie in der Heimat anzurufen. Bah zeigt mit dem Finger auf die Kühltruhe und die Regale voller Saft und Bier. "Dort standen die Telefonkabinen. Die Computer gab es noch nicht, stattdessen ein kleines Büro." Hier beriet er seine Kunden auch in Asylfragen, übersetzte die Briefe der Ämter. Bah erledigte sogar Behördengänge. Sonntags kochte er für alle.
"Es fehlte nur einer: Oury."
Irgendwann im Sommer 2004 steht Oury Jalloh im Laden. Er will telefonieren. Bah schickt ihn in Kabine zwei. Anschließend kommen die beiden Männer ins Gespräch. Jalloh stammt aus Sierra Leone, Bah aus Guinea. Sie sind auf unterschiedlichen Wegen nach Deutschland gelangt. Mouctar Bah 1993 als Student, Jalloh als Flüchtling.
Oury Jalloh kommt von nun an öfter in das Telecafé. Sie nennen ihn "Rasta" wegen seiner Haare. Manchmal übernachtet er bei Mouctar Bah, der damals direkt über dem Laden wohnt. Sie gehen zusammen in die Disco, schauen Fußball. "Er war ein so offener Mensch", sagt Mouctar Bah. Seine Stimme klingt zärtlich, wenn er über Jalloh redet. "Einmal kam er mit einem jungen Asiaten zu uns. Einige reagierten etwas ablehnend. Da sagte Oury, wir seien rassistisch." Bah lacht. Das tut er selten.
Tod von Oury Jalloh:Oberstaatsanwalt hält Vertuschung im Fall Oury Jalloh für möglich
Seit Langem gibt es Zweifel, ob der Tod des Asylbewerbers im Polizeigewahrsam ein Unfall war. Der damals zuständige Staatsanwalt hält eine Vertuschung für denkbar.
In der Nacht zum 7. Januar 2005 sieht Bah seinen Freund zum letzten Mal. Die beiden wollen tanzen gehen. Als Oury Jalloh seinen Freund Bah abholen will, ist der Laden voll. Bah kann nicht weg, bittet Jalloh zu warten. Doch der zieht irgendwann alleine los. Am nächsten Morgen bekommt Mouctar Bah einen Anruf. Ob er schon gehört hätte, ein Schwarzafrikaner sei auf der Polizeiwache gestorben. Mouctar Bah startet eine Telefonlawine: Alle sollen sich im Telecafé treffen. "Es fehlte nur einer: Oury."
Im Radio hören sie, was angeblich in der Nacht passiert ist: Ihr Freund soll auf der Straße Frauen belästigt haben. Herbeigerufene Polizisten sperrten ihn in eine Gefängniszelle, an Händen und Füßen gefesselt. In der Zelle soll er die Matratze, auf der er lag, angezündet haben. Es ist Mouctar Bah, der Jallohs Vater die schreckliche Nachricht überbringt. Das mit den Fesseln erzählt er nicht. "Ich hatte nicht die Kraft dazu."
Auch wegen Jallohs Familie beschließt Mouctar Bah, die genauen Umstände des Todes von Oury Jalloh aufzuklären. Mitstreiter findet er zunächst in den Stammkunden seines Telecafés. Hier versammeln sie sich nach der Trauerfeier im März 2005. Wer mitmachen will, hebt die Hand. Es ist die Geburtsstunde der Initiative. Mit Spenden finanzieren sie zunächst eine zweite Obduktion der Leiche. Das Ergebnis: Jallohs Nase war gebrochen, das Trommelfell geplatzt. Wie ist das passiert? Und warum steht davon nichts im Obduktionsbericht der Rechtsmedizin?
Wie kam das Feuerzeug in die Zelle?
Hinzu kommt die fragwürdige Beweislage. Erst Tage nach dem Tod von Oury Jalloh tauchten Reste eines Feuerzeugs auf, mit dem sich der Asylbewerber angezündet haben soll. Allerdings konnten an dem Feuerzeug weder DNA-Spuren nachgewiesen werden noch Gewebereste von Jallohs Kleidung oder der Matratze, auf der er lag. Stattdessen fanden sich daran andere Polyesterfastern, Tierhaare sowie DNA unbekannter Herkunft. Mouctar Bah ist überzeugt, dass sich das Feuerzeug nicht in der Zelle befand als Jalloh starb. Hat es jemand nachträglich dort platziert?
Als die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau im Mai 2005 Anklage gegen zwei Polizeibeamte erhebt, besteht für sie an der Theorie, Jalloh habe sich selbst angezündet, kein Zweifel. Im Gerichtsverfahren geht es nicht um die Umstände, unter denen Oury Jalloh zu Tode kam. Lediglich das Fehlverhalten der Polizisten spielt eine Rolle (mehr dazu hier). Doch die Beteiligten belasten sich nicht gegenseitig, eine Beamtin zieht ihre Aussage zurück.
Die Initiative beauftragt einen Brandgutachter
2008 spricht der Richter die Polizisten frei. Aus Mangel an Beweisen. Den Zeugen wirft er vor, gelogen und eine "Aufklärung verunmöglicht zu haben". Am Ende seiner mündlichen Urteilsbegründung wählt er ungewöhnlich harte Worte: "Ich habe keinen Bock, zu diesem Scheiß noch irgendwas zu sagen." (die Protokolle der einzelnen Verhandlungstage finden Sie hier). In einem zweiten Verfahren wird der Dienstgruppenleiter 2012 wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe verurteilt. Der Bundesgerichtshof bestätigt das Urteil. Oury Jalloh starb an einem Hitzeschock, verursacht durch ein Feuer, das er selbst legte und auf das die Polizisten zu spät reagierten - das ist die offizielle Version der Geschichte. Die Justiz legt den Fall zu den Akten.
Doch Mouctar Bah und die Aktivisten der Initiative machen weiter. Das Unterstützernetzwerk zieht sich mittlerweile durch ganz Deutschland. Mit Spenden bezahlen sie nicht nur die Anwälte, sie übernehmen selbst die Arbeit von Ermittlern. Sie tun etwas, das bisher weder die Polizei noch die Justiz in Erwägung gezogen haben. Sie beauftragen einen Brandgutachter, Versuche zu unternehmen. Mouctar Bah ist selbst dabei. Er legt sich auf eine Matratze, die der in der Zelle ähnlich ist, versucht die Füllung herauszupuhlen und in Brand zu setzen. So wie es sein Freund Jalloh getan haben soll. Bah trägt keine Handschellen, braucht aber trotzdem 20 Minuten. Für ihn ein Beweis dafür, wie schwierig es ist unter diesen Umständen ein Feuer zu legen.
Im November 2013 stellt die Initiative das Ergebnis des Brandgutachtens vor: Hätte Jalloh das Feuer tatsächlich selbst gelegt, wäre nur ein Schwelbrand entstanden. Doch sein Körper war bis in die tiefsten Muskelschichten verkohlt. Ein solch starkes Feuer lasse sich nur mithilfe von Brandbeschleuniger erzeugen, heißt es in dem Bericht ( das komplette Gutachten als PDF - Achtung, das Dokument zeigt ein Foto der Leiche). Der Oberstaatsanwalt von Dessau-Roßlau, Folker Bittmann, spricht von "teilweise erschreckenden Informationen" und strengt ein eigenes Brandgutachten an. Nach der Auswertung will Bittmann einen Mord nicht mehr ausschließen. Wie ein jüngst bekannt gewordener Aktenvermerk zeigt, hält es der Oberstaatsanwalt für möglich, dass die Polizisten durch den Brand eine Gewalttat vertuschen wollten.
Bittmann bittet den Generalbundesanwalt in Karlsruhe um Hilfe, der für schwere politisch motivierte Straftaten zuständig ist. Wenige Monate später, im August 2017 übernimmt jedoch die Staatsanwaltschaft in Halle den Fall. In Dessau-Roßlau fehle es derzeit an Kapazitäten, heißt es offiziell. Doch Halle stellt nach zwei Monaten überraschend das Verfahren ein.
Mouctar Bah glaubt nicht an einen Zufall, denn er glaubt nicht mehr an den deutschen Rechtsstaat. Bah hat kein Vertrauen in die Polizei, die Justiz - und auch nicht in die Politik, die jetzt auf Aufklärung des Falles dringt. Für manche Aktivisten der "Initiative im Gedenken an Oury Jalloh" sind staatliche Institutionen erklärtes Feindbild. Die umstrittene linke Organisation "Rote Hilfe" unterstützt die Initiative. Landtagsabgeordnete, die die Arbeit der Aktivisten loben, berichten, dass die Zusammenarbeit manchmal nicht einfach sei. Man werde selbst als Teil eines "Systems" wahrgenommen. Gleichzeitig sei die Skepsis verständlich - auch aufgrund der Repressionen, die einige Aktivisten erlebt hätten.
Besonders Mouctar Bah geriet immer wieder ins Visier der Behörden. Ende 2005 verlor er die Gewerbelizenz für sein Telecafé. Nachbarn hatten sich beim Ordnungsamt beschwert über die "Zusammenrottung von Schwarzafrikanern". Einige der Kunden würden mit Drogen handeln - Bah bestritt das schon damals nicht. Gleichzeitig, so erklärt er, habe er aber selbst mehrmals bei den Behörden auf das Problem aufmerksam gemacht. Hinzu kamen Anzeigen nach einer Auseinandersetzung mit einem rechtsextremen Nachbarn. Der hatte ihn nicht nur beschimpft, sondern auch geschlagen. Bah wehrte sich ( Hier die genauen Zusammenhänge).
Unter dem Vorwand einer Drogenrazzia stürmte die Polizei 2009 das Telecafé. Trotz Besitzerwechsel blieb es ein Treffpunkt, vor allem für die schwarze Community der Stadt. Alle Anwesenden, darunter auch Bah, mussten sich nackt ausziehen und auf den Boden legen. Der Polizeipräsident entschuldigte sich später für die Aktion. Es gibt eine lange Liste mit ähnlichen Vorfällen, nicht jeder lässt sich einzeln nachprüfen. Doch dass Mouctar Bah schikaniert und kriminalisiert wurde, davon ist nicht nur er selbst überzeugt, sondern auch Landtagsabgeordnete der Grünen und der Linken.
Eine Untersuchungskommission soll aufklären
Seit Oury Jallohs Tod ist das Leben von Mouctar Bah beeinträchtigt. Er hat seine Existenz verloren und beinahe auch die Liebe seiner Frau, die mit den fünf gemeinsamen Kindern in Berlin lebt. Er ist müde. Doch es muss weiter gehen, gerade jetzt, wo die Aufmerksamkeit für den Fall Oury Jalloh wieder groß ist.
Ende Dezember war Mouctar Bah viel unterwegs, in Frankreich und Italien. Die Initiative sucht derzeit Experten für eine unabhängige Untersuchungskommission, die den Fall Oury Jalloh aufklären soll. Außerdem haben sie beim Generalbundesanwalt Anzeige wegen Mordes erstattet, sie wollen das Verfahren am Laufen halten, damit die Beweise nicht vernichtet werden.
Eine letzte Frage an Mouctar Bah: Was, wenn der Tod von Oury Jalloh tatsächlich aufgeklärt ist? Wird er dann loslassen können? Loslassen von Dessau, dem Internetcafé, von seinem Freund? Bah starrt vor sich hin, dann sagt er. "Ich kann Oury Jalloh nicht loslassen."