Fall von Sklaverei in London:Die Regeln des bösen Spiels

Wie findet jemand, der lange Zeit gegen seinen Willen festgehalten wurde, in die Freiheit zurück? Die Psychiaterin und Psychotherapeutin Ulrike Schmidt behandelt in ihrem Beruf Menschen, die Traumatisches erlebt haben. Im Gespräch mit Süddeutsche.de schildert sie Erfahrungen mit Patienten, die in Gefangenschaft gelebt haben.

Von Felicitas Kock

Was die drei Frauen durchgemacht haben, die gerade aus einem Wohnhaus in London befreit worden sind, lässt sich für Außenstehende nur schwer vorstellen. 30 Jahre lang wurden sie gegen ihren Willen festgehalten. Wie ist es ihnen all die Jahre in ihrem Gefängnis ergangen? Was hat sie letztlich zum Ausbruch bewegt? Und werden sie überhaupt mit einem Leben in Freiheit zurechtkommen? Es sind diese Fragen, die die Öffentlichkeit jetzt beschäftigen - doch bei ihrer Beantwortung sollte trotz aller verständlichen Neugierde Vorsicht walten.

"Eine Ferndiagnose ist absolut nicht möglich", sagt Ulrike Schmidt, Leiterin der Traumaforschungsgruppe am Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie. Schmidt behandelt in ihrem Beruf Menschen, die Traumatisches erlebt haben, einen schlimmen Unfall etwa, oder ein Gewaltverbrechen. Manche ihrer Patienten haben lange Zeit in Gefangenschaft gelebt, sind mitunter gefoltert worden.

"Wenn eine Person über einen längeren Zeitraum hinweg gegen ihren Willen festgehalten wird, dann entsteht für sie eine Art Parallelwelt", erklärt die Expertin. Diese folge komplett anderen Regeln und Moralvorstellungen als "die Welt da draußen." Mit der Zeit passe sich der Gefangene den Gegebenheiten an. "Wenn er zum Beispiel jedes Mal grün und blau geschlagen wird, sobald er eine bestimmte Tür öffnet, dann öffnet er diese Tür irgendwann nicht mehr. Er lernt nach und nach die Regeln des bösen Spiels."

Wiederherstellung eines positiven Lebensgefühls

Wie die Frauen - eine 69 Jahre alte Malaysierin, eine 57-jährige Irin und 30 Jahre alte Britin - einst in die Fänge des Paares geraten sind, das sie eingesperrt haben soll, ist bislang nicht bekannt. Auch zu den Umständen ihrer Unterbringung dringen kaum Informationen an die Öffentlichkeit. Nur so viel: Die Frauen durften das Haus offenbar nicht verlassen und sich auch im Inneren des Gebäudes nur bedingt frei bewegen. Außerdem sollen sie schreckliche Angst vor ihren Peinigern gehabt haben.

Warum eine der Frauen nach 30 Jahren dennoch zum Telefonhörer griff und die Nummer einer Hilfsorganisation wählte, über die sie im Fernsehen erfahren hatte, kann sich Schmidt nur bedingt erklären. Vielleicht seien zu dem Zeitpunkt einfach verschiedene glückliche Umstände zusammengekommen und hätten eine plötzliche Verhaltensänderung, einen Ausbruch aus der Unmündigkeit gefördert. "Wie es tatsächlich war, kann aber nur durch Ermittlungen vor Ort aufgeklärt werden", sagt Schmidt.

Was jetzt für die Frauen wichtig sei, sei eine gute therapeutische Betreuung - und das Gefühl, die Dinge selbst bestimmen zu dürfen. "Wahrscheinlich kennen die Betroffenen das gar nicht mehr", sagt die Psychiaterin und Psychotherapeutin. Gut möglich, dass sie sich über die Jahre an einen Zustand gewöhnt haben, in dem andere über ihr Leben bestimmen. Umso wichtiger sei es daher, so Schmidt, dass die befreiten Frauen jetzt zuerst nach ihren eigenen Wünschen gefragt würden.

Massive Persönlichkeitsveränderungen möglich

Auf die Frage, ob Menschen, die Jahrzehnte in Gefangenschaft verbracht haben, überhaupt wieder in ein freies Leben zurückfinden können, hat Schmidt keine allgemeingültige Antwort. "Wenn die Traumadosis sehr hoch war", sagt die Psychologin, "kann es sein, dass sich die Persönlichkeit massiv verändert." Menschen, die lange Zeit gegen ihren Willen festgehalten wurden, würden oft ihre gesamte Umwelt als feindlich empfinden. Viele hätten auch ein verkürztes Zukunftsbild - sie machen keine Pläne, weil ihnen ihr künftiges Leben nicht mehr besonders lang und eine Verbesserung ihres Zustands unmöglich erscheint. Manche Betroffenen bekommen Depressionen, andere leiden unter einem Posttraumatischen Stresssyndrom. Dies sei nun von den Therapeuten vor Ort zu diagnostizieren und individuell zu behandeln.

Durch eine Therapie sei bei vielen Trauma-Patienten eine Besserung, bei einigen auch die Wiederherstellung eines positiven Lebensgefühls möglich - auch wenn die Therapie von chronisch Traumatisierten sich oft als besonders langwierig herausstellt. Doch bis eine Behandlung möglich ist, müssen die Betroffenen erst einmal soweit sein, dass sie die Therapiesituation ertragen. Für Menschen, die lange Zeit in Gefangenschaft gehalten wurden, ist es laut Schmidt schon eine erhebliche Leistung, einfach nur in einem geschlossenen Raum zu sitzen - und einem anderen Menschen wieder Vertrauen zu schenken.

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