Fall Turner:Hier geht es nicht um Sex

Fall Turner: Teilnehmerinnen des Slutwalks demonstrieren gegen sexuelle Gewalt.

Teilnehmerinnen des Slutwalks demonstrieren gegen sexuelle Gewalt.

(Foto: imago stock&people)

Kesha, Gina-Lisa und die von Brock Turner missbrauchte Studentin aus Stanford haben eines gemeinsam: Ihre Geschichten verändern die Art, wie über sexuelle Gewalt diskutiert wird.

Von Barbara Vorsamer

Erstens: Ein Mann vergewaltigt oder missbraucht eine bewusstlose Frau. Zweitens: Er kommt mit einem milden Urteil davon. Drittens: Es folgt laute, öffentliche Empörung.

Was daran neu ist? Die Empörung.

Sexuelle Gewalt ist Alltag. Einer EU-Studie aus dem Jahr 2014 zufolge ist jede dritte Frau im Laufe ihres Lebens betroffen, eine ältere Erhebung des Bundesfamilienministeriums kommt zu dem Ergebnis, dass in Deutschland jede siebte Frau vergewaltigt wird.

Ebenfalls nicht ungewöhnlich ist, dass Täter nicht angezeigt werden. Der EU-Studie zufolge gehen nur zwischen 15 und 17 Prozent der Opfer zur Polizei. Zum Vergleich: Bei Autodiebstählen werden 94 Prozent kriminalstatistisch erfasst. Und dass Urteile bei Sexualstraftaten häufig milde ausfallen, der Ruf des mutmaßlichen Täters geschützt und die Glaubwürdigkeit des Opfers in Zweifel gezogen wird, ist Normalität.

Gerade ändert sich das. In den vergangenen Monaten sind zahlreiche Fälle von sexueller Gewalt diskutiert worden. Zuletzt kam es zu einem Sturm der Entrüstung, als Stanford-Student Brock Turner wegen des Missbrauchs einer bewusstlosen Frau zur vergleichsweise milden Strafe von sechs Monaten verurteilt wurde.

Die Verharmlosung von Missbrauch und Vergewaltigung wird immer weniger hingenommen, die Solidarität mit den Opfern ist größer und lauter geworden. Es erscheint der Öffentlichkeit inzwischen zumindest vorstellbar, dass das mutmaßliche Opfer die Wahrheit sagt. Nicht allen Frauen geht es bei den Prozessen darum, ihren Ex aus Eifersucht zu vernichten, sich an horrenden Summen Schmerzensgeld zu bereichern oder durch einen erfundenen Vorwurf den eigenen guten Ruf wieder herzustellen, so die aktuelle Wahrnehmung.

In Pennsylvania steht US-Schauspieler Bill Cosby vor Gericht. Er muss sich mit den Vorwürfen Dutzender Frauen auseinandersetzen, die zum Teil schon Jahrzehnte alt sind - und die vorher nicht gehört wurden. Sängerin Kesha wirft ihrem Produzenten Luke Gottwald sexuelle Gewalt vor. Pornodarstellerin Stoya behauptet, dass ihr Ex-Partner und Kollege James Deen ihr Nein beim Sex missachtet habe. Star-Geiger David Garrett wiederum fühlt sich von seiner Ex-Freundin Ashley Youdan erpresst. Sie wirft ihm abseitige Sexualpraktiken vor. Der Musiker teilt in dem Zusammenhang auch mit, dass er Youdan zunächst als Escortdame "gebucht" habe.

Und Gina-Lisa Lohfink, einst als "Zack, die Bohne"-Kandidatin bei "Germany's Next Topmodel" bekannt geworden, steht wegen des Vorwurfs der falschen Verdächtigung vor Gericht. Sie hatte 2012 Anzeige gegen zwei Männer erstattet und bei der Polizei zu Protokoll gegeben, dass diese ihr K.O.-Tropfen gegeben und sie vergewaltigt hätten. Anhand eines Videos entschied das Gericht, dass keine Vergewaltigung vorliege - und stellte Lohfink einen Strafbefehl über 24 000 Euro zu. Das will sie nicht hinnehmen.

All diese Fälle können nicht über einen Kamm geschoren werden, dazu sind sie zu unterschiedlich. Manche werden oder wurden vor Gericht verhandelt, andere nicht. Manche Geschichten sind glaubwürdig, andere weniger. Doch darum soll es hier nicht gehen.

Sondern darum, wie sehr sich der Tonfall der Debatte geändert hat.

Wer hunderttausendmal Ja gesagt hat, behält das Recht, Nein zu sagen

Ja, es gibt Artikel über den ersten Gerichtstag von Gina-Lisa Lohfink, die auf vielen Zeilen ihre "wasserstoffblonden Haare", High Heels und Brüste beschreiben und außerdem darauf hinweisen, dass sie schon mal Pornos gedreht und eine Sexmesse beworben hat. Auch auf den Hinweis, dass Ashley Youdan und Stoya Pornodarstellerinnen sind, verzichtet kein Text. Gleichzeitig wird das Argument immer lauter, dass eine Vergangenheit in der Sexindustrie oder ein promiskuitiver Lebenswandel nicht heißt, dass jemand keine sexuelle Gewalt erleben kann.

Um es ganz platt auszudrücken: Auch wer hunderttausendmal Ja gesagt hat, behält das Recht, Nein zu sagen.

Und mit dieser Formulierung ist man mittendrin im Streit um die Änderung des deutschen Sexualstrafrechts. Der Bundestag berät derzeit über eine Verschärfung - die vielen Kritikern nicht weit genug geht. Sie fordern, das Prinzip "Nein heißt Nein" endlich im deutschen Strafrecht umzusetzen, so wie es bereits 2011 in der Istanbul-Konvention des Europarats festgelegt wurde. Im derzeit geltenden Recht liegt eine Vergewaltigung nur vor, wenn sich das Opfer körperlich gewehrt oder der Täter eine schutzlose Lage ausgenutzt hat. Im neuen Gesetzentwurf soll als weiteres Kriterium eine allgemeine Drohung oder Überrumpelung dazu kommen.

Auch mit einem "Nein heißt Nein"-Gesetz könnte niemand ohne Beweise verurteilt werden

Abgeordneten aller Fraktionen und Verbände ist das zu wenig, sie fordern in einem aktuellen Eckpunktepapier, dass es künftig reichen soll, wenn das Opfer seine Ablehnung verbal oder durch Weinen oder Abwehren ausdrückt. Justizminister Heiko Maas sieht das anders. Vor Gericht sei ein Nein schwer nachzuweisen, eine Ministeriumssprecherin teilte mit, dass massenhaft Falschanzeigen drohen würden.

Es ist richtig, dass ein bloßes Nein meistens nicht bewiesen werden kann. Fälle von sexueller Gewalt sind sehr häufig klassische "Er sagt dies, sie sagt etwas anderes"-Situationen, und wenn es über die beiden, sich widersprechenden Aussagen hinaus keine Beweise oder Zeugen gibt, kann niemand verurteilt werden. Das ist jetzt so und das würde so bleiben, auch wenn "Nein heißt Nein" im Gesetz verankert werden würde. "Im Zweifel für den Angeklagten" ist einer der wichtigsten Grundsätze in einem Rechtsstaat. Auch nach der Ratifikation der Istanbul-Konvention werden Opfer vor Gericht eher Erfolg haben, wenn sie Gewalteinwirkungen nachweisen können oder es Belege dafür gibt, dass sie sich in einer schutzlosen Lage befunden haben.

Sexuelle Gewalt ist in erster Linie Gewalt. Nicht Sex.

Die Diskussion um "Nein heißt Nein" schließt sich daher an die Debatte um Vergewaltigung in der Ehe an, die in den neunziger Jahren geführt worden ist. Auch damals wurde argumentiert, dass doch kein Gericht darüber entscheiden könne, was in privaten Schlafzimmern vorgefallen sei. Kann es auch nicht - wenn zwei Aussagen alles sind, was vorliegt. Doch dass Vergewaltigung in der Ehe seit 1997 strafbar ist, machte deutlich, dass ein Ja vor dem Standesbeamten eben kein Ja zu allem ist, was danach kommt.

Eine Verankerung des "Nein heißt Nein"-Prinzips im Sexualstrafrecht hätte einen ähnlichen Effekt: Es würde klar machen, dass ein Nein zählt - unabhängig von welcher Person es geäußert wird, welchen Lebenswandel diese hat, in welcher Situation sie es sagt und wie die Rahmenbedingungen sind. Sexuelle Gewalt ist in erster Linie Gewalt. Nicht Sex. Dass darüber derzeit so heftig diskutiert wird, ist bereits ein Erfolg.

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