Süddeutsche Zeitung

Fall Tuğçe:Prozess für eine Heldin

Lesezeit: 3 min

Von Susanne Höll, Frankfurt

In Deutschland tut man sich schwerer mit Idolen als anderswo, wenn man einmal die Verehrung populärer Fußballspieler beiseitelässt. Doch in diesem Fall ist es anders: Vor dem Landgericht Darmstadt wird von diesem Freitag an der Tod einer außergewöhnlichen jungen Frau untersucht, einer Frau, die als Heldin gilt.

Inzwischen steht für die Staatsanwaltschaft fest: Der 18 Jahre alte Sanel M., Offenbacher mit familiären Wurzeln in Serbien, hat in den frühen Morgenstunden des 15. November 2014 auf einem Parkplatz vor einem Imbiss in Offenbach der damals 22 Jahre alten türkischstämmigen Lehramtsstudentin Tuğçe Albayrak aus Gelnhausen nach einem Streit ins Gesicht geschlagen. Die junge Frau schlug mit dem Kopf auf den Boden, erlitt tödliche Verletzungen und fiel ins Koma. An ihrem Geburtstag, dem 28. November, ließen die Eltern die Maschinen abstellen, die sie in der Klinik am Leben hielten.

Das ganze Land nahm damals Anteil am Schicksal der Studentin und ihrer Familie. Die Beerdigung wurde zu einer öffentlichen Trauerdemonstration. Bundespräsident Joachim Gauck prüft, ob sie für ihre Zivilcourage posthum das Bundesverdienstkreuz erhält. Denn Tuğçe Albayrak hatte sich, so erzählen Zeugen, in der verhängnisvollen Nacht als Heldin erwiesen.

Tuğçe Albayrak eilte den Mädchen zu Hilfe

Tuğçe Albayrak war mit Freundinnen unterwegs, als sie in dem Schnellimbiss auf einmal Rufe aus der Damentoilette hörte. Dort saßen zwei Mädchen, beide nicht einmal 14 Jahre alt. Vor ihnen stand Sanel M. mitsamt seinen Kumpels. Ob die Jungen die zwei Halbwüchsigen bedrängten, ist nicht eindeutig geklärt. Tuğçe Albayrak jedenfalls eilte den Mädchen zu Hilfe, verscheuchte die jungen Männer aus der Toilette.

Kurze Zeit später trafen die Studentin und ihre Freundinnen auf dem Parkplatz erneut auf Sanel M. und dessen Clique. Es soll Wortgefechte gegeben haben, rüde Beleidigungen, von beiden Seiten wohlgemerkt. Schließlich hob Sanel M. die Hand. Kameras zeichneten den Hieb auf. Er selbst gibt den Schlag zu. Nun muss er sich verantworten wegen Körperverletzung mit Todesfolge. Er sitzt seit der Tat in Untersuchungshaft. Ihm droht nach dem Jugendstrafrecht eine Gefängnisstrafe von maximal zehn Jahren. Im für ihn günstigsten Fall könnte er mit einer Bewährungsstrafe davonkommen.

Die Jugendkammer am Landgericht muss nicht mehr klären, ob Sanel M. der Täter war. In dem Prozess wird es vor allem darum gehen, ob der junge Mann, so der Vorwurf der Staatsanwaltschaft, gewusst haben muss, welche Folgen ein solcher Schlag mit der flachen Hand gegen den Kopf haben könnte - das Opfer stürzte rückwärts auf den Asphalt und schlug mit dem Kopf auf, sie erlitt ein Schädelhirntrauma mit Brüchen des Schädelknochens und fiel ins Koma. Oder ob, wie die Verteidiger des Angeklagten argumentieren, eine Kette unglückseliger Umstände mit zu der Attacke und dem fatalen Sturz führte, was die Strafe für Sanel M. womöglich mildern könnte.

Der 18-jährige Angeklagte ist in vielfacher Weise das Gegenbild von Tuğçe Albayrak. Er war ein schlechter Schüler, schaffte mit Not den Hauptschulabschluss, driftete ab ins Kleinkriminellenmilieu, stahl Handys und Zigaretten und wurde dabei auch handgreiflich, sein Selbstbewusstsein im Bekanntenkreis gilt als ausgeprägt. Tuğçe Albayrak hatte gute Noten, machte Abitur, interessierte sich für Musik, spielte Klavier, so erzählen Verwandte und Freunde. Schwarz und Weiß, Integrations-Loser gegen Siegerin. "Heldin, Engel, Verlierer", titelt der Spiegel Ende 2014.

Alle Beteiligten hatten in der Tatnacht getrunken

Doch ganz so einfach wird es nicht sein, die Dinge vollständig zu klären, trotz der scheinbar eindeutigen Rollenverteilung zwischen Täter und Opfer. Alle Beteiligten, womöglich auch die beiden halbwüchsigen Mädchen im Klo, hatten in der Nacht getrunken, wer wen wie beleidigte, kann das Gericht vielleicht klären. Vielleicht aber auch nicht.

Sanel M., so sagt sein Verteidiger Stephan Kuhn, bereue seinen Schlag und wolle das auch zum Prozessauftakt sagen. In den ersten Wochen nach dem Tod von Tuğçe Albayrak hätte er sich, wäre er auf freiem Fuß gewesen, seines Lebens nicht sicher sein können. Die persönlichen Drohungen gegen ihn seien massiv gewesen. In der Untersuchungshaft wurde er einmal verprügelt, angeblich wegen seiner Tat.

An diesem Freitag wird Sanel M. zum ersten Mal dem Vater des Opfers in die Augen schauen müssen. Ali Albayrak wird als Erster vor Gericht sprechen, er ist kein Zeuge, sondern Nebenkläger in der Verhandlung. Für Prozesse dieser Art sei das ein ungewöhnlicher Start, sagen Experten. Was den Vorsitzenden Richter zu diesem Auftakt veranlasst, konnte auch die Darmstädter Gerichtssprecherin bisher nicht sagen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2447678
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 23.04.2015
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.