Fall Marco W.:Unberechtigte Empörung

Ein Gedankenspiel: Marco heißt nicht Marco, sondern Mustafa. Der Schüler aus Antalya macht Ferien in Deutschland. Dort trifft er in der Disco ein Mädchen ... Warum der Fall in Lüneburg nicht viel anders behandelt und beurteilt würde als in der Türkei.

Heribert Prantl

Im Strafrecht gibt es allerlei Umstände: etwa die mildernden, die erschwerenden und die besonderen Umstände - und sie alle können Einfluss darauf haben, ob und wie lange jemand in Haft sitzen muss.

Im Fall des jungen Marco W. aus Uelzen, der in Antalya hinter Gittern sitzt, spielen womöglich ganz besondere Umstände eine Rolle, die viel mit Nationalpsychologie zu tun haben: Hätten sich deutsche Politiker und deutsche Zeitungen nicht so lauthals empört über die angeblich hinterwäldlerische und archaische türkische Justiz, wäre also die Erst-Beurteilung des Falles in Deutschland nicht von Vorurteilen und von Unkenntnis geleitet gewesen, dann wäre dessen juristische Beurteilung in der Türkei wohl schon abgeschlossen.

Die im Fall Marco unberechtigte Empörung über die türkische Justiz hat diese in Rage und in die Situation gebracht, ihre Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit durch besondere Penibilität in diesem Fall zu beweisen. Das dauert.

Die rechtliche Abwicklung des Falles Marco in der Türkei unterscheidet sich von der Behandlung eines gleichgelagerten Falles in Deutschland nur in der Qualität des Gefängnisses und der Dauer der Untersuchungshaft. Aber nicht einmal Letzteres ist so sicher: Es gibt gar nicht so wenige Beispiele für bedenklich lange U-Haft-Zeiten für Jugendliche; Überlastung der Justiz gilt als Entschuldigung.

Aus Marco wird Mustafa

Verlagern wir also den Fall Marco nach Deutschland: Marco heißt nicht Marco, sondern Mustafa. Er kommt aus Antalya, geht dort in die Schule und macht Ferien bei seinen Verwandten im niedersächsischen Uelzen. Dort lernt der 17-Jährige eine 13-jährige Engländerin kennen.

Dann geht die Geschichte so weiter, wie sie bei Marco aus Uelzen, der in Antalya Urlaub gemacht hat, weitergegangen ist: Die Mutter des Mädchens erhebt Vorwürfe gegen Mustafa wegen Vergewaltigung, Mustafa bestreitet vehement und verteidigt sich so, wie sich Marco verteidigt hat: Er habe das Mädchen für 15 gehalten, es sei keine Gewalt im Spiel gewesen und mit sexuellen Spielereien sei sie einverstanden gewesen.

Was hätte die Staatsanwaltschaft in Lüneburg gemacht? Nichts anderes als die türkische Justiz! Auch hierzulande wäre dringender Tatverdacht angenommen und der Beschuldigte wegen Fluchtgefahr verhaftet worden: Bei ausländischen Verdächtigen ohne Wohnsitz im Land der Strafverfolgung wird dies allgemein so praktiziert.

Dann hätten schwierige Ermittlungen begonnen. Und wenn die türkische Öffentlichkeit deren Dauer kritisiert hätte, hätte der deutsche Justizsprecher erklärt, dass Aufklärung nicht einfach ist, wenn der mutmaßliche Täter und sein Opfer aus dem Ausland, noch dazu aus verschiedenen Ländern stammen.

Die türkischen Paragraphen, die den sexuellen Missbrauch eines Kindes, also einer Person unter 14 Jahren, bestrafen, sind den deutschen sehr ähnlich. Das türkische Recht wurde 2004 gründlich reformiert und den EU-Normen angepasst, deutsche Juristen haben mitgearbeitet; das bis dahin geltende, frauenfeindliche, Strafrecht, das die Türkei 1926 vom faschistischen Italien übernahm, ist abgeschafft.

Der einschlägige Paragraph verbietet, hier wie dort, jeglichen sexuellen Kontakt mit Kindern. Ein Irrtum über das Alter findet, hier wie dort, Berücksichtigung. Und hier wie dort gilt der Grundsatz "in dubio pro reo". Aber er kommt erst dann zur Anwendung, wenn die Tat, so gut es geht, aufgeklärt ist. Sexueller Missbrauch ist keine Bagatelle.

Sollte Marco verurteilt werden, wird er die Strafe in Deutschland verbüßen können und dann sogleich auf Bewährung entlassen werden. Denn die Haft in der Türkei wird gut angerechnet, nicht nur 1:1, sondern nach einem günstigen Umrechnungsfaktor: Einem Tag dort entsprechen drei Tage hier. So werden die schwereren Haftbedingungen berücksichtigt. Für Deutsche, die in Spanien, Griechenland oder Portugal in Haft sitzen, gilt das übrigens auch.

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