Fall Jens Söring:"Ich bin ganz klar der Meinung, dass er rausgelassen werden sollte"

Fall Jens Söring: Chip Harding, Sheriff im US-Bundesstaat Virginia, setzt sich für den zu lebenslänglicher Haft verurteiliten Deutschen Jens Söring ein.

Chip Harding, Sheriff im US-Bundesstaat Virginia, setzt sich für den zu lebenslänglicher Haft verurteiliten Deutschen Jens Söring ein.

(Foto: Privat)

Jens Söring, der in den USA zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, beteuert seit 30 Jahren seine Unschuld. Ausgerechnet ein republikanischer Sheriff wird jetzt zu seinem wichtigsten Fürsprecher.

Interview von Karin Steinberger

Die Tat, derentwegen Jens Söring in den USA im Gefängnis sitzt, liegt 30 Jahre zurück. Damals war Söring, in Thailand als Sohn eines deutschen Diplomaten geboren, 19 Jahre alt und Student an der University of Virginia. Am 30. März 1985 soll er die Eltern seiner damaligen Freundin Elizabeth Haysom in deren Wohnung auf brutale Weise ermordet haben. Söring und Haysom wurden ein Jahr danach in London verhaftet, später wurde er an die USA ausgeliefert. Er gestand, widerrief das Geständnis, sagte später, er habe sich selbst der Tat bezichtigt, um seine Freundin vor dem elektrischen Stuhl zu retten.

Immer wieder gab es seitdem Bemühungen, den Deutschen aus dem Gefängnis zu holen. Doch dass sich jetzt ein amtierender Sheriff, noch dazu ein Republikaner, für Söring einsetzt, ist eine überraschende Wende. Chip Harding hat Akten geprüft, Beweisanträge gelesen und DNA-Analysen studiert. Er hat den damals leitenden Ermittler interviewt und Söring selbst. Sein Ergebnis nach 200 Stunden Arbeit: Der Deutsche sitzt zu Unrecht im Gefängnis. Also schrieb er Anfang dieser Woche einen langen Brief an den Gouverneur und forderte die Freilassung des Gefangenen. Im Interview erklärt er, warum ihm Fehlurteile früher egal waren und wie er jetzt auf der Suche nach Gerechtigkeit angefeindet wird.

Süddeutsche Zeitung: Sheriff Harding, es ist ja gerade einiges los bei Ihnen.

Chip Harding: Ich war darauf vorbereitet. Es ist ja auch gut, dass die Geschichte bekannter wird. Es ist gut, dass der Staat Virginia sieht: Es gibt immer zwei Seiten. Der Fall liegt einfach nicht so, wie es in all den Jahren dargestellt wurde.

Warum Jens Söring? Was hat Sie bewogen, sich ausgerechnet dieses Falles anzunehmen nach all den Jahren?

Steve Rosenfield, Jens Sörings Anwalt, kam zu mir, weil er wusste, dass ich immer wieder an solchen Fällen gearbeitet habe. Er brachte mir ein paar Dokumente und sagte: Du wirst das sicher nicht alles lesen können. Ich dachte, das schaue ich mir mal schnell an. Ich war ja immer der Meinung, dass Jens Söring wahrscheinlich schuldig ist. Es war in meinen Augen richtig, dass Gouverneur Bob McDonnell 2010 Sörings Haftüberstellung nach Deutschland blockiert hat. Ich fand nicht fair, dass er einfach so davonkommt.

Warum haben Sie Ihre Meinung geändert?

Direkt nachdem ich anfing zu lesen, war klar: Das konnte ich so nicht auf sich beruhen lassen. Ich wusste ziemlich schnell, das ist Unrecht. Ich bin mir heute sicher, dass Söring bei einem Wiederaufnahmeverfahren niemals verurteilt werden würde. Wissen Sie, es gibt Menschen, die werden eingesperrt und bleiben eingesperrt, weil sie gefährlich sind und anderen Menschen weh tun. Aber es gibt auch Menschen, denen Unrecht widerfährt und die fälschlicherweise eingesperrt werden. Als ich Jens besucht habe, war das irgendwie lustig...

Lustig?

... ja, weil er so schnell geredet hat. Wir hatten ja nur ein paar Stunden. Ich habe ihm gesagt: Junge, ich komme wieder, ich arbeite mich doch erst ein in den Fall. Und er sagte: "Gott sei Dank, ich dachte, ich habe nur diese eine Chance." Ich sagte ihm dann auch: "Ich will nicht unhöflich sein, aber das hat nichts mit dir zu tun, es geht hier nur um die Beweise. Ob ich dich mag oder nicht mag, das macht nicht den geringsten Unterschied." Inzwischen bin ich ganz klar der Meinung, dass er rausgelassen werden sollte. Er ist wahrscheinlich unschuldig, er ist jedenfalls definitiv nicht ohne jeden Zweifel schuldig.

Wenn er wirklich seit 1986 unschuldig im Gefängnis sitzt, fragt man sich, wie er das durchgestanden hat.

Mittlerweile werde ich da richtig emotional. Manchmal, wenn es mir sehr gut geht, denke ich mir: Tja, und der arme Kerl sitzt da seit 31 Jahren, er hätte so viel Potenzial gehabt, Gutes zu tun. Aber er hatte nie eine Chance, Kinder zu kriegen, ins Kino zu gehen, das Internet zu benutzen oder ein Handy in der Hand zu halten.

Sie haben mal gesagt, dass Elizabeth Haysom, seine damalige Freundin, auch ein Opfer war. Sie wurde sehr wahrscheinlich von der eigenen Mutter sexuell missbraucht.

Richtig, sie ist ein Opfer, wenn sie wirklich missbraucht wurde. Und die Nacktfotos von ihr, die damals am Tatort gefunden wurden, das sind ja alles Hinweise. Aber ich bin vorsichtig, ich glaube einfach nichts von dem, was sie sagt. Sie hat zu oft gelogen.

Warum tun Sie sich das eigentlich an, die ganze Arbeit?

Ich kandidierte für kein Amt mehr, ich bin jetzt 66 Jahre alt, ich mache das also nicht, um Publicity zu bekommen.

Es gibt ja auch keine öffentliche Anerkennung für einen Sheriff, wenn er sich in Virginia, wo das Prinzip von Law and Order viel gilt, für die Freilassung eines deutschen Häftlings einsetzt.

Das ist richtig. Im Internet gingen die Beschimpfungen auch gleich los. Ich hatte noch gar keine Zeit, mir das anzusehen, aber mein Sohn hat es mir erzählt. Da stehen dann Sätze wie: "Was zum Teufel macht dieser Sheriff? Warum steckt er seine Nase in Dinge, die ihn nichts angehen?" Solche Sachen.

"In den Vereinigten Staaten ist die Justiz irgendwie steckengeblieben"

Haben Sie das erwartet?

Aber sicher. Vor ein paar Jahren habe ich einem Mann geholfen, sein Name war Michael Wayne Hash. Er war wegen Mordes verurteilt, aber er war unschuldig und ist jetzt ein freier Mann. Damals rief sogar ein Sheriff bei mir an und frage, was zum Teufel ich da mache. Ich habe mal bei einer Sheriff-Konferenz gesagt, dass wir eine unabhängige Justizkommission brauchen. Sie könnte aufarbeiten, was wir gelernt haben aus Fällen, in denen durch DNS-Analysen die Unschuld von Verurteilten bewiesen werden konnte. Sie könnte helfen, unsere Arbeit zu verbessern. Als ich vom Podium runterkam, standen dort drei, vier Männer, die mir die Hand schüttelten und sagten, dass sie hundertprozentig hinter mir stehen. Aber sie haben auch gesagt, dass ein paar Leute in diesem Raum wirklich sehr sauer sind auf mich.

Wieso diese Gegenwehr?

Es ist die Angst vor Veränderung. Großbritannien ist da in vielen Punkten wirklich weit vorne, aber in den Vereinigten Staaten ist die Justiz irgendwie steckengeblieben. Letztlich ist es wie bei einem Flugzeugabsturz. Da kommt eine Gruppe von Experten und begutachtet, warum das Flugzeug abgestürzt ist, damit das nicht wieder passiert. Im Rechtssystem kommt nach einem Fehlurteil das Innocence Project [eine Gruppe von Anwälten, die sich um die Aufdeckung von Justizirrtümern bemüht, Anm.d.Red] und begutachtet den Fall. Es gibt auch hervorragende Forschung über die Ursachen von Fehlurteilen. Es wäre nicht mal teuer und schwierig, diese Dinge zu ändern. Aber ich habe trotzdem keine Ahnung, wie wir das durchsetzen können. Man bräuchte einen wirklich wichtigen Politiker, der die Autorität hätte, so eine Kommission zu gründen.

Haben Sie Hoffnung, dass sich da etwas tut?

Kaum. Ich habe ja nur noch zweieinhalb Jahre im Job. Aber ich arbeite dran, ich versuche es trotzdem. Und es gibt eine ganze Gruppe hervorragender Leute, die mich unterstützen, Professor Brandon Garrett von der Universität von Virginia zum Beispiel. Er hat "Convicting the Innocent" ("Verurteilung der Unschuldigen") geschrieben, eine faszinierende Studie.

Warum ist es so wichtig, diese Fälle aufzuarbeiten?

Wissen Sie, ich habe mich früher nie um Fehlurteile gekümmert. Die Ungerechtigkeit, die ich so lebendig gesehen habe, war für mich die der Opfer. Ich war wie die meisten von uns in den Vollzugsbehörden: Ich kämpfte dafür, die bösen Jungs von der Straße zu bekommen. Der Wendepunkt für mich war John Grishams Buch "The Innocent Man" (deutscher Titel: "Der Gefangene"). Da habe ich erkannt: Wir müssen unbedingt unser Bewusstsein für dieses Problem schärfen. Und es tut sich ja auch was, aber lange nicht so viel, wie nötig wäre. Wenn es allen wirklich klar wäre, würden wir uns zusammen an den Tisch setzen und überlegen, wie wir die Fehlurteile minimieren können.

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