Fall Dschaber al-Bakr:Al-Bakrs Suizid verstört das Land

Weil man sich Hinweise auf mögliche Hintermänner erhofft hatte, ist der Tod al-Bakrs ein Rückschlag für die Ermittler. Aber auch der gesellschaftliche Wunsch nach Gerechtigkeit bleibt unerfüllt.

Von Antonie Rietzschel

Nach dem Suizid von Dschaber al-Bakr beginnt die Fehlersuche. Jede Menge Fragen prasseln an diesem Donnerstag auf Rolf Jacob ein, den Leiter der Justizvollzuganstalt (JVA) Leipzig. Dort hatte sich der der Terrorverdächtige mithilfe eines T-Shirts erhängt. Allein dieser Fakt liefert jede Menge Stoff zur Diskussion: Wie reißfest ist Häftlingskleidung? Was trägt ein Suizidgefährdeter? Solche Fragen stellen die Journalisten. Es geht auch um die Psychologin, die bescheinigt hatte, dass keine Suizidgefahr bestehe, und um ihre berufliche Erfahrung.

Hätte man die äußere Ruhe des Häftlings nicht als Warnsignal einstufen können? Hätte man nicht wissen müssen, dass ein Attentäter, der bereit ist, mit einem Selbstmordattentat Menschen in den Tod zu reißen, auch in einer Zelle bereit ist, sich das Leben zu nehmen? Das Wort "hätte" fällt ziemlich häufig in dieser Pressekonferenz. Es klingt nach Ohnmacht, als der sächsische Justizminister Sebastian Gemkow sagt: "Das hätte nicht passieren dürfen."

Doch es ist passiert. Und der Schaden ist gewaltig. Nicht nur für die Beteiligten. Auch für die Justiz, die Politik, die Zivilgesellschaft. Das Land reagiert verstört angesichts der Dimension dessen, was Leipzig geschehen ist.

Im Fokus stehen jetzt, am Tag nach der Tat, vor allem die direkt Beteiligten. Sie räumen zwar ein, dass bestimmte Anzeichen möglicherweise unterschätzt worden seien. Grundsätzlich sei aber alles im Rahmen der Vorschriften abgelaufen. Der Freistaat Sachsen steht unter besonderem Druck. Dessen Polizisten waren ohnehin in die Kritik geraten, weil sie Dschaber al-Bakr während eines Großeinsatzes in Chemnitz entwischen ließen. Schließlich waren es drei Syrer, Landsleute des Terrorverdächtigen, bei denen er Unterschlupf gesucht hatte, die den 22-Jährigen in ihrer Wohung festsetzten und den Beamten übergaben.

Besonders groß ist der Schaden auch für die Ermittler der Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe. Dort hatte man sich erhofft, von Dschaber al-Bakr Informationen über etwaige Hintermänner zu bekommen. Aber auch darüber, wie seine Radikalisierung vor sich ging. Wie der syrische Flüchtling zum islamistischen Fundamentalisten wurde, der ein Selbstmordattentat mit Sprengstoff plante.

"Es wäre ein schöner Ermittlungsansatz gewesen"

Deutschland wurde in diesem Jahr bereits zweimal Opfer von Terroranschlägen. Die Attentäter von Würzburg und Ansbach hatten beide einen Bezug zum Islamischen Staat. Informationen über ihre Motive und ihre Verbindungen zum IS konnten sie selbst nicht mehr geben, da sie bei den Anschlägen starben. Dschaber al-Bakr gehörte zu 520 sogenannten islamistischen "Gefährdern", die bundesweit von der Polizei überwacht werden. Mit seiner Verhaftung konnte nicht nur ein weiterer Anschlag verhindert werden. Seine Radikalisierung war offenbar schon so weit fortgeschritten, dass er für die Sicherheitsbehörden eine wichtige Quelle hätte werden können. Doch jetzt ist er tot.

Der Generalbundesanwalt sei sicher nicht erfreut darüber, sagte der sächsische Generalstaatsanwalt Klaus Fleischmann während der Pressekonferenz. "Es wäre ein schöner Ermittlungsansatz gewesen, wenn al-Bakr ausgepackt hätte." Gleichzeitig machte Fleischmann deutlich, dass unklar sei, ob der Terrorverdächtige sich überhaupt hätte äußern wollen. Nach dem deutschen Strafrecht hätte es al-Bakr freigestanden zu schweigen, in der Hoffnung, damit die Ermittlungen zu erschweren oder gar vor Gericht ein niedrigeres Strafmaß zu erhalten.

Verfahren gegen al-Bakr eingestellt - Ermittlungen laufen weiter

Für diese Taktik hat sich auch der Terrorist Salah Abdeslam entschieden. Er ist der einzige Überlebende der Anschläge vom 13. November 2015 in Paris, bei denen 130 Menschen starben. Nach Ansichten der Ermitter soll es 30 Hintermänner gegeben haben, Abdeslam könnte den Weg zu ihnen weisen. Abdeslam ist einer der am besten bewachten Häftlinge Frankreichs. Er sitzt in Isolationshaft und wird von zwei Kameras sowie mehreren Aufsehern kontrolliert. So soll verhindert werden, dass Abdeslam Suizid begeht oder sich Verrat fürchtende Komplizen an ihm rächen können. Doch der Gefangene schweigt. Seine Anwälte haben deswegen diese Woche ihr Mandat niedergelegt. Denn sogar mit ihnen will er nicht über seine Motive reden .

Al-Bakr hatte einen Pflichtverteidiger. Ob der Terrorverdächtige mit ihm über seine Pläne gesprochen hat, ist unklar. Alexander Hübner zeigte sich fassungslos angesichts des Suizids seines Mandanten. Er widerspricht der Darstellung der Psychologin, seiner Meinung nach sei al-Bakr suizidgefährdet gewesen. Die Psychologin hat sich nach Darstellung des Leiters der JVA in Leipzig ausführlich mit al-Bakr unterhalten. Dabei ging es vor allem um dessen Verfassung. er kündigte offenbar einen Hungerstreik an, um eine schnellere Abschiebung zu erwirken.

Mit dem Tod des Häftlings wurde das Verfahren gegen ihn eingestellt. "Dennoch gibt es weitere Ermittlungen, um die Tat aufzuklären", sagt ein Sprecher der Generalbundesanwaltschaft. Ein zweiter Verdächtiger, der al-Bakr geholfen haben soll, sitzt noch in Untersuchungshaft. Inwiefern der Suizid al-Bakrs die Ermittlungen erschwert beziehungsweise wie diese genau aussehen, dazu will der Sprecher nichts sagen.

Bei Fällen wie al-Bakr und Abdeslam ist nicht nur das Interesse von Ermittlern groß, sondern auch das Interesse der Öffentlichkeit. Man will die Terroristen verstehen, wissen, was sie zu dem machte, was sie sind. Abdeslam entzieht sich durch sein Schweigen, das ist besonders für die Angehörigen der Opfer traumatisch.

"Durch seinen Suizid hat er sich einem Strafverfahren entzogen"

"Hier stoßen zwei Punkte aufeinander: Die der geregelten Rechtslage bezüglich des Angeklagten und das Aufklärungsbedürfnis der Bevölkerung", sagt der Sozialpsychologe Ullrich Wagner. Abdeslam kann zumindest noch der Prozess gemacht werden. Nicht so bei al-Bakr: "Durch seinen Suizid hat er sich einem Strafverfahren entzogen, das wir als gerecht empfinden", sagt Wagner. Dass der Syrer ausgerechnet in staatlichem Gewahrsam Suizid begehen konnte, führt zu Misstrauen. "Wir sind es gewohnt, dass alles einigermaßen reibungslos abläuft. Wenn dann so was passiert, kann das dazu führen, das System zu hinterfragen."

Nach dem jüngsten Vorfall haben die Sicherheitsbehörden dieses System überdacht. Der zweite, der ebenfalls in Chemnitz festgenommen wurde, sitzt nun in der JVA Dresden. Vor seiner Tür passt jetzt rund um die Uhr ein Beamter auf.

Anmerkung der Redaktion: Wegen der wissenschaftlich belegten Nachahmerquote nach Selbsttötungen haben wir uns entschieden, in der Regel nicht über Suizide oder Suizidversuche zu berichten, außer sie erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit. Diese Bedingung sehen wir im Fall des Terrorverdächtigen Dschaber al-Bakr gegeben, denn wie und warum er zu Tode kam und welche Konsequenzen daraus abzuleiten sind, ist Gegenstand einer relevanten öffentlichen Debatte. Dennoch gestalten wir die Berichterstattung bewusst zurückhaltend und verzichten wo es möglich ist auf Details.

Wenn Sie sich selbst betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge (http://www.telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.

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