Fall Anneli:"In Deutschland wird jede Woche ein Mensch entführt"

Polizei findet Frauenleiche in Lampersdorf

1200 Beamte suchten in Sachsen nach der 17-jährigen Anneli, konnten jedoch nur noch ihre Leiche bergen.

(Foto: dpa)

Beim Spaziergang mit ihrem Hund wird Anneli, Tochter eines wohlhabenden Bauunternehmers aus Sachsen, entführt. Die Täter fordern 1,2 Millionen Euro Lösegeld vom Vater - und wissen dann nicht weiter. 1200 Beamte suchen nach dem Mädchen, können jedoch nur noch ihre Leiche bergen. DNA-Spuren führen die Ermittler zu einem polizeibekannten Verdächtigen. Der 39-Jährige sowie sein 61-jähriger Komplize werden verhaftet.

Frank Roselieb ist Direktor des Instituts für Krisenforschung in Kiel. Er berät Familien und Unternehmen bei Entführungen.

Von Anna Fischhaber

SZ: Wie oft werden Menschen in Deutschland entführt?

Frank Roselieb: Es gibt etwa 80 Entführungsfälle im Jahr. Ein Viertel davon wird bereits bei der Tatausübung vereitelt - weil sich das Opfer wehrt, wegläuft oder der Täter merkt, dass er dem Ganzen doch nicht gewachsen ist. Bleiben etwa 60 Fälle. Durchschnittlich wird also in Deutschland jede Woche ein Mensch entführt.

Warum bekommt die Öffentlichkeit davon nur so wenig mit?

Die Polizei will zum einen Nachahmungstaten verhindern. Eine Entführung ist das einzige Verbrechen, bei dem man mit einer einzigen Tat eine Million Euro verdienen kann - dafür wollen die Behörden natürlich möglichst wenig Werbung machen. Wenn die Öffentlichkeit etwas erfährt, dann meist erst im Nachhinein. Zum anderen wollen die Ermittler den Druck auf den Täter nicht zu sehr erhöhen und so das Opfer gefährden.

Können Sie nachvollziehen, dass sich Polizei und Eltern im Fall Anneli bereits am Sonntag an die Öffentlichkeit gewandt haben?

So ein Schritt ist immer der letzte Ausweg. Im Fall Anneli ist der Kontakt zu den Tätern abgebrochen. Zudem hat die Polizei schnell erkannt, dass hier vermutlich Dilettanten am Werk sind. Die wollten sich beispielsweise das Lösegeld per Onlinebanking überweisen lassen, das ist bei einer so hohen Summe gar nicht so einfach möglich. Die Polizei wollte die Täter erinnern, dass sie eine Straferleichterung erwartet, wenn sie das Opfer freilassen und auf ihre Geldforderung verzichten.

Wie hoch ist die Dunkelziffer bei Entführungen?

Wir unterscheiden drei Typen von Entführungen: Das Quick Kidnapping, das vor allem in Mittelamerika vorkommt, aber auch in Deutschland leicht zunimmt. Hier geht es um das schnelle Geld: Die Opfer werden mit vorgehaltener Waffe zum nächsten Geldautomaten geschleppt. So eine Entführung dauert in der Regel nur zwei, drei Stunden. Diese Blitzentführungen werden oft angezeigt. Dann gibt es das Revenge Kidnapping - jemand wird beispielsweise von seinem Geschäftspartner betrogen und entführt aus Rache dessen Tochter. Hier ist die Dunkelziffer sehr hoch, weil es eine Täter-Opfer-Vermischung gibt. Der Vater also lieber zahlt, als den Betrug öffentlich zu machen. Und dann gibt es die Kapitalentführung wie im Fall Anneli. Hier ist die Dunkelziffer relativ gering. Oft bleiben die Opfer lange weg, das fällt auf - im Fall des entführten Jan Philipp Reemtsma waren es mehr als 30 Tage.

Wenn die Polizei eingeschaltet wird: Welche Maschinerie läuft dann an?

Zunächst werden die Angehörigen versorgt, dann versuchen die Beamten das Handy des Opfers zu orten, Telefon und Internet werden überwacht, DNA-Analysen gemacht. Dadurch ist die Zahl der Entführungen massiv zurückgegangen. Die Täter wissen, dass sie heute wenige Chancen haben, unentdeckt zu bleiben. Zudem sind zahlreiche Polizisten hinter ihnen her. Im Fall Anneli waren es 1200 Beamte. Die Polizei unterscheidet bei einer Entführung drei Phasen.

Welche sind das?

Frank Roselieb

Frank Roselieb ist Direktor des Instituts für Krisenforschung in Kiel und Experte für Entführungen.

(Foto: privat)

In Phase eins wird überprüft, ob es sich um eine echte Entführung handelt. Meistens dauert es höchstens zwölf Stunden, bis sich der Täter meldet. In Phase zwei wird mit ihm verhandelt. In Phase drei will der Entführer das Geld einlösen - in dieser Phase werden die meisten Täter gefasst. Etwa 90 Prozent der Entführungen werden aufgeklärt, es lohnt sich also eigentlich nicht.

Gibt es einen bestimmten Verbrechertypus "Entführer"?

In Verbrecherkreisen gilt eine Entführung als sehr komplex - also eine Art "Hochleistungsverbrechen", natürlich im negativen Wortsinn. Die Täter sind meist keine Anfänger, sondern Seniorverbrecher. Im Schnitt sind sie 35 bis 55 Jahre alt, überdurchschnittlich oft männlich und meist haben sie schon eine kriminelle Vergangenheit. Natürlich gibt es auch den Typus verschuldeter Gelegenheitstäter aus der Region. Aber Entführer sind harte Typen. Sie müssen das Opfer überwältigen, wegbringen, einsperren und mit der Polizei verhandeln. Dazu braucht es eine enorme kriminelle Energie.

"Angehörige fühlen sich oft von Polizei schlecht behandelt"

Wie viel haben die Angehörigen zu sagen und was entscheidet die Polizei bei den Ermittlungen?

Das Problem ist, dass Angehörige sich oft von der Polizei schlecht behandelt fühlen. Zu Unrecht. Die Polizei will den Täter fassen, aber natürlich haben die Ermittler vor allem Interesse, das Opfer lebend zu befreien. Für die Angehörigen wirkt das nur oft nicht so. Im Fall Reemtsma sind viele Geldübergaben gescheitert, daraufhin haben die Entführer ihre Forderung auf 30 Millionen D-Mark erhöht. Die Angehörigen haben dann entschieden, die Geldübergabe ohne die Polizei durchzuführen und dafür einen Kieler Professor und einen Hamburger Pfarrer angeheuert. Das hat dann wirklich geklappt. Ich würde das aber nicht empfehlen, die Täter sind gefährlich. Und die Polizei hat Erfahrung - sie weiß schon, was sie tut.

Trifft das auch auf den Fall Anneli zu?

Dieser Fall war natürlich besonders. Die Ermittler haben das schnell gemerkt, weil die Täter so dilettantisch waren. Da gibt es eigentlich nur eine Hoffnung: Die Täter merken, dass die Sache zu komplex für sie ist und lassen ihr Opfer frei - wie gerade im Fall Würth. Falls nicht, gibt es nur wenige Chancen.

Wie hoch sind die Überlebenschancen für Entführungsopfer?

Je länger verhandelt wird, desto höher ist die Überlebenschance. Dann baut sich oft eine Opfer-Täter-Beziehung auf - das sogenannte Stockholmsyndrom, bei dem das Opfer instinktiv so reagiert, wie der Täter will. Wichtig ist natürlich, dass der Kontakt zum Entführer nicht abreißt. Wenn doch, muss man das Schlimmste befürchten.

Wie ergeht es Entführungsopfern, die so eine Tat überleben?

Traumatisiert sind sie fast alle, das ist ja eine massive Bedrohung. In Mexiko werden etwa 3000 Nordamerikaner und Europäer pro Jahr entführt - Kidnapping ist dort so häufig wie bei uns ein Autodiebstahl. In Deutschland ist eine Entführung dagegen ungewöhnlich und überraschend für die Opfer. Oft sind sie gefesselt und bekommen nicht genug zu essen und trinken. Die psychologische Betreuung dauert oft Jahre. Körperliche Schäden wie im Fall Oetker sind dagegen eher die Ausnahme.

Wie können wohlhabende Eltern ihre Kinder schützen, damit sie gar nicht erst zum Opfer werden?

Sie sollten die Zahl ihrer Kinder nicht im Internet öffentlich machen - es ist praktisch eine Einladung für Entführer, wenn da steht: Verheiratet und vier Kinder. Auch die Kinder sollten ihr Leben auf Facebook nicht zu öffentlich machen. Aber man sollte soziale Medien auch nicht überschätzen: Entführer scannen in der Regel nicht Facebook durch, um zu entscheiden, wen sie entführen. Sie suchen sich erst ihr Opfer aus und beobachten es dann. Prävention ist dennoch wichtig: Viele Eltern schicken ihre Kinder auf Eliteinternate, die Vorkehrungen für Entführungen getroffen haben. Zudem bietet die Polizei Tipps und Beratungen an.

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