Fährunglück vor New York:"Wir dachten zuerst an eine Bombe"

Der Horror kam unerwartet, und gerade deshalb traf das Fährunglück mit mindestens zehn Toten eine Stadt besonders heftig, die in ständiger unterschwelliger Angst vor Terroranschlägen lebt.

Es war ein stürmischer, aber sonniger Tag in New York. Die Überfahrt mit der Fähre von Manhattan nach Staten Island begann pünktlich um 15 Uhr. Die meisten der 1500 Passagiere des 100 Meter langen und drei Stockwerke hohen Fährschiffes, das den Namen des legendären Football-Trainers Andrew J. Barberi trägt, freuten sich auf den Feierabend.

Fährunglück vor New York: Blick ins Innere der Fähre

Blick ins Innere der Fähre

(Foto: Foto: dpa)

Die Touristen genossen die Aussicht auf die Freiheitsstatue, die einstige Einwandererinsel Ellis Island und die Skyline von Manhattan. Doch dann geschah das Unerwartete: "Wir dachten zuerst an eine Bombe, so laut war der Knall, als sich das Schiff in den Beton am Kai bohrte", sagt Sorona Jones, die das Unglück im zweiten Stock der Fähre unverletzt überlebte.

Unverletzt allerdings nur äußerlich. "Das ist ein Albtraum, der mich verfolgen wird. Seit vielen Jahren bin ich jeden Tag zur Arbeit nach Manhattan und wieder zurück nach Staten Island übers Wasser gefahren. Ohne eine Spur von Angst. Das ist vorbei."

Nicht viel anders dürfte es zumindest in den nächsten Tagen sehr vielen New Yorkern gehen. Auch jenen, die von der zweitschwersten Fährschiff-Katastrophe seit Gründung ihrer Stadt nur aus dem Fernsehen erfahren haben.

20 Minuten nach dem Ablegen waren zehn Menschen tot, Dutzende trugen schwere Verletzungen davon. Das Schiff, nach Augenzeugenberichten zu schnell unterwegs, wurde an eine Kaimauer gedrückt, eine Seitenwand der Fähre dabei regelrecht aufgeschlitzt.

Viele Fahrgäste sprangen in das kalte Wasser des New Yorker Hafens, wo sich der Atlantik, der Hudson- und der East River treffen und schwammen um ihr Leben.

Chaotische Szenen spielten sich an Bord der "Andrew J. Barberi" ab. Hunderte Menschen durchlitten auf der schwer beschädigten Großraumfähre Todesangst.

Fünf Fährschiffe sind unter der Woche rund um die Uhr im Einsatz, für insgesamt mehr als 100 Überfahrten pro Tag. Auf dem knapp neun Kilometer langen Wasserweg befördern sie täglich rund 70.000 Menschen.

Begonnen hatte der Fährverkehr zwischen Manhattan und der südlich gelegenen Insel Staten Island schon im Jahr 1713. Die erste mit Dampfmaschinen angetriebene Fähre wurde mehr als 100 Jahre später in Betrieb genommen.

Das bislang schwerste Unglück liegt so lange zurück, dass es aus dem Bewusstsein der New Yorker längst verschwunden war. Am 30. Juli 1871 explodierte auf der Fähre "Westfield" der Dampfkessel, kurz nachdem der Kapitän "Volle Kraft voraus" befohlen hatte. 104 Menschen starben bei diesem Unglück.

Schon immer war die Fährverbindung zwischen den zwei Inseln auch deshalb beliebt, weil sie wunderbare Blicke auf Manhattan bietet. Tausende New Yorker und Besucher der Stadt werden jedoch die Augenblicke nie vergessen, in denen sie am Morgen des 11. September 2001 von einer der Staten-Island-Fähren aus mit ansehen mussten, wie zwei Passagierflugzeuge in die Zwillingstürme des World Trade Centers rasten.

"An diesem Tag war ich auf dem Weg zu meinem Büro in der Nähe der Wall Street", sagt John Martin. "Ich sah ein Inferno, und ich bin bis heute nicht damit fertig geworden. Jetzt ist alles noch schlimmer."

Im Krankenhaus Sankt Vincent auf Staten Island waren Ärzte in der Nacht zum Donnerstag ohne Pause im Einsatz, um Verletzte zu behandeln. Wochen, Monate, wenn nicht Jahre werden sie mit Patienten zu tun haben, die unter den psychischen Folgen des Fährunglücks leiden.

Auch nach den Terroranschlägen am 11. September waren in der Klinik viele Verletzte behandelt worden. Später wurde sie - in Erwartung weiterer Anschläge auf New York - als Notfallkrankenhaus ausgebaut. "Dies ist keine normale Stadt mehr", sagte ein Arzt des Hospitals, der seinen Namen nicht veröffentlicht sehen wollte. "Dies ist eine Stadt in ständiger unterschwelliger Angst."

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