Am Sonntagmorgen ist die Feuerwehr noch einmal durch Koblenz gefahren, aus Lautsprecherwagen tönte die Ermahnung, die Stadt bis neun Uhr zu räumen. 45.000 Menschen mussten weichen, fast die Hälfte aller Einwohner, es war eine der größten Evakuierungen in Deutschland seit Kriegsende. Auch der Hauptbahnhof und vier Bundesstraßen wurden gesperrt.
So glich halb Koblenz einer Geisterstadt, als sich am Nachmittag Horst Lenz und seine Kollegen vom Kampfmittelräumdienst daran machten, eine 1,8 Tonnen schwere britische Luftmine aus dem Zweiten Weltkrieg zu entschärfen, dazu eine 125 Kilogramm schwere US-Bombe und ein deutsches Tarnnebelfass. Sie lagen alle im Rhein, der derzeit Niedrigwasser führt und so den Blick freigibt auf explosive Überbleibsel des Krieges.
Entwarnung am Nachmittag
Kurz vor 17 Uhr am Nachmittag kam dann die gute Nachricht: Die Bomben waren unschädlich, das Nebelfass gesprengt, die Menschen konnten zurück in ihre Stadt. Koblenz war unbeschadet davon gekommen, man kann sogar sagen: Koblenz ist ziemlich gelassen geblieben.
Polizei und Feuerwehr befürchteten vor der Aktion, dass einige Uneinsichtige in ihren Häusern ausharren und so den ganzen Zeitplan durcheinanderbringen könnten. Doch die Koblenzer verließen am Sonntag ihre Wohnungen reibungslos. Nur vier Türen mussten die Sicherheitskräfte bei ihren Kontrollgängen durch die Straßen aufbrechen. In einem Fall stießen sie auf eine demente Person, dreimal fanden sie Zeitschaltuhren, die das Licht brennen ließen. In den Häusern bleiben durften allein die Haustiere.
Mehr als 230 Rettungswagen waren am Sonntag im Einsatz, um pflegebedürftige Koblenzer und die Bewohner von sieben Altenheimen in Sicherheit zu bringen. Eine Angehörige erzählte von einer Frau, die vor dem Abtransport bitterlich weinte: "Sie hat Bombennächte im Zweiten Weltkrieg erlebt, und das kommt jetzt alles wieder hoch." Zwei Krankenhäuser und ein Gefängnis in der Gefahrenzone wurden schon in den Tagen zuvor geräumt.
Viele Koblenzer machten am Sonntag trotz des Regens also einen Ausflug auf die nahen Weihnachtsmärkte oder besuchten Freunde. Die meisten Plätze in den sieben Notunterkünften, die für 12.000 Menschen ausgelegt waren, blieben leer. In der Sporthalle einer Berufsschule saßen vier alte Damen zusammen. "Als heute Morgen der Wagen durch die Straßen fuhr und ich die Lautsprecher-Durchsagen gehört habe, habe ich doch eine Gänsehaut bekommen", erzählt eine von ihnen, 77 Jahre alt, "da kamen Kindheitserinnerungen hoch." Es sei allerdings schon ihre dritte Evakuierung.
In Koblenz, wie in vielen anderen deutschen Städten, werden noch häufig Blindgänger aus dem Krieg gefunden und ganze Stadtteile geräumt. Zuletzt traf es im Oktober 20.000 Menschen in Halle. Weil wohl noch Tausende Bomben im Boden liegen, suchen Experten oft alte Lichtbilder ab, ehe in Großstädten gebaut werden darf: Auf den Fotos sind kleine Einschlagskrater von Blindgängern zu sehen. An diesen Stellen müssen die Bauherren dann zuerst das Gelände erkunden lassen.
Alt und gefährlich
Besonders tückisch sind Blindgänger mit chemischen Langzeitzündern. Sie können auch 66 Jahre nach Kriegsende noch aktiviert werden, zum Beispiel durch die Bewegungen eines Baggers.
In Koblenz waren die Entschärfer im Sommer deshalb sichtbar nervös, als sie unweit einer Ikea-Filiale so eine Bombe fanden: Im Nachhinein stellte sich heraus, dass der Zeitzünder tatsächlich lief und es nicht mehr lange gedauert hätte bis zur Explosion. In Göttingen starben vergangenes Jahr drei Kampfmittelräumer bei ihrer Arbeit auf dem Schützenplatz.
Trotz ihres enormen Gewichts von 1,8 Tonnen war die Koblenzer Luftmine für Horst Lenz eine vergleichsweise einfache Aufgabe. Ihre Aufschlagzünder waren unbeschädigt und nicht korrodiert, er müsse sie im Grunde nur Herausdrehen, erzählte der 56-Jährige vor der Aktion. Wie viele Bomben rund um die Stadt noch herumliegen, kann er aber nicht sagen: "Es gibt einfach keine Schätzungen, die Hand und Fuß haben."