Evakuierung nach Bombenfund im Rhein:Halb Koblenz muss die Stadt verlassen

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45.000 Menschen sind aufgefordert, die Koblenzer Innenstadt zu räumen, weil im Rhein eine riesige Luftmine gefunden wurde. Während die Jugend anlässlich der Evakuierung Partys mit "Bombenstimmung" veranstaltet, stehen für ältere Menschen Seelsorger bereit - falls das Ereignis bei der Kriegsgeneration schlimme Erinnerungen wachruft.

Marc Widmann, Koblenz

Die Fernsehnachrichten hat Tanja Vogt seltener als sonst anstellen lassen in den vergangenen Tagen, sie ließ auch weniger Zeitungen auslegen im Koblenzer Wohnstift Sankt Martin. 44 alte Menschen leben hier, 80 Jahre alt im Schnitt, und viele haben die Bomben noch selbst erlebt, die in den letzten Kriegsmonaten auf die Stadt fielen und Koblenz fast völlig zerstörten.

Arbeiter haben bereits einen künstlichen Damm aus Sandsäcken um die Bombe geschichtet, die Feuerwehr muss nun noch das Wasser abpumpen und den Blindgänger trockenlegen. (Foto: dpa)

Jetzt hat man wieder so ein Ding gefunden, eine riesige Luftmine, sie liegt 600 Meter entfernt im Rhein; ein kleiner Spaziergang nur, und man kann die Stelle sehen: die Arbeiter und das Schiff mit dem Kran.

"Wir sehen das eher als Ausflug"

Tanja Vogt will keine schrecklichen Erinnerungen wecken. "Wir versuchen, das Wort Bombe und Evakuierung zu vermeiden", sagt die freundliche Heimleiterin. Sie erzählt lieber, dass da "etwas Altes" gefunden wurde, deshalb müssen alle zusammen für einen Tag wegfahren. "Wir sehen das eher als Ausflug."

Nicht nur die Alten von Sankt Martin, halb Koblenz muss die Stadt bis Sonntag 9 Uhr verlassen. 45.000 Menschen leben in der Sperrzone, die Sicherheitskräfte werden durch die Straßen patrouillieren und im Zweifel die Tür aufbrechen, wenn ein Uneinsichtiger partout nicht weichen will.

Viele Koblenzer werden also einen Ausflug machen oder Freunde besuchen; Kneipen in sicherer Entfernung bieten Bombenpartys an, natürlich mit "Bombenstimmung"; sieben Schulen stehen als Notquartiere für 12.000 Menschen zur Verfügung.

Richtig kompliziert aber wird es für die Häftlinge im Gefängnis, für die Patienten der beiden Krankenhäuser und für die Bewohner der sieben Altenheime.

Ruth Hemme ist 85 Jahre alt, sie hat "diese Bomberei" selbst erlebt, zweimal wurde sie ausgebombt. Jetzt wird sie am Sonntagmorgen mitfahren von Sankt Martin in ein anderes Pflegeheim einige Kilometer weiter, und versuchen, die Adventsfeier zu genießen. Es gibt Musik und Spiele, die Frau für die Gymnastik fährt ebenfalls mit. Und falls es doch länger dauert als bis zum späten Nachmittag? "Dafür haben wir Feldbetten", sagt die Heimleiterin.

Luftmine, Notquartiere, Feldbetten. Es scheint, als kehre der Krieg für einen Tag zurück an den Rhein, zumindest was diese alten Begriffe angeht.

Horst Lenz kennt viele solcher Wörter, es ist sein Beruf, die Reste des Krieges zu entschärfen. Wenn alles glatt läuft, wird er am Sonntag gegen 15 Uhr die "Pistole" der britischen "Großladungsbombe" herausdrehen, dann den "Detonator" mit Sprengkapsel und Zündladung herausziehen. Damit Lenz im Trockenen arbeiten kann, haben Arbeiter einen künstlichen Damm aus Sandsäcken um die Bombe geschichtet, die Feuerwehr wird das Wasser abpumpen und den Blindgänger trockenlegen, der 40 Zentimeter unter der Rheinoberfläche liegt.

Das Ding, wie Horst Lenz es nennt. Er sagt: "Das Ding ist sehr groß."

1784 Kilo wiegt die britische Luftmine HC 4000, für jedes Kilo müssen die Menschen einen Meter Abstand halten. "Ich bin nicht verantwortlich für die Absperrung, das ist die Bombe", sagt Horst Lenz. Er ist verantwortlich, dass der Blindgänger 66 Jahre nach dem Krieg nicht doch noch tötet. "Die Gefahr ist sehr gering, aber nicht Null", sagt der technische Leiter des rheinland-pfälzischen Kampfmittelräumdienstes. Schließlich fliegen die Splitter 1,8 Kilometer weit, schließlich deckt sie noch in einem Kilometer die Dächer ab, lässt Fenster und Türen bersten. Das war ihr Zweck: So sollte sie einst den Brandbomben den Weg freisprengen.

Horst Lenz wirkt etwas angespannt in diesen Tagen, was daran liegt, dass plötzlich vielerorts alte Bomben oder Tarnnebelfässer im Rhein entdeckt werden. Das Wasser steht niedrig wie selten, und die Menschen schauen jetzt ganz genau hin. Es schlummern noch unzählige Blindgänger im Fluss, man kann froh sein, solange kein Schiff darauf fährt. Dann sei alles denkbar, sagt Lenz. Warum hat man den Rhein nicht längst mit Metalldetektoren abgesucht? "Vergebene Liebesmüh", sagt der Experte. Hoffnungslos. "Das Rheinufer ist ein riesiger Schrottplatz."

Sicherheitsmaßnahmen, dass ja kein Sträfling entwischt

Von der Bombe bis zum Gefängnis von Josef Maldener sind es 1,2 Kilometer Luftlinie, also muss auch er räumen. "Das ist nicht unproblematisch", sagt der Anstaltsleiter, "das erfordert Höchstleistung." Er hat am Freitag schon angefangen, spezielle Busse fahren die Häftlinge in andere Gefängnisse des Landes, wohin genau, bleibt aus Sicherheitsgründen bis zuletzt geheim. In den Bussen sitzen die Häftlinge in abgeschlossenen Kabinen, insofern hat Maldener keine schlaflosen Nächte, dass ihm ein Straftäter während der Evakuierung entwischt.

Komplizierter ist das Verteilen der Insassen. Tatgenossen, bei denen der Richter die Trennung angeordnet hat, dürfen sich nach der Verlegung nicht plötzlich doch noch im selben Gefängnis wiederfinden. Und Muslime sollen auch am Ziel weiter ihre Schweinefleisch-freie Kost erhalten - solche Fragen beschäftigen den Gefängnischef in diesen Tagen. Er hofft wohl wie viele in Koblenz, dass es bald ordentlich regnet und die Bomben im Rhein wieder unsichtbar werden.

Auch vor dem Stiftsklinikum werden um halb zehn am Samstagmorgen die Krankenwagen anrücken. Knapp 100 Patienten werden etagenweise ins Erdgeschoss gebracht, auf Transportliegen gebettet und bekommen farbige Karten um den Hals. Es wird ein wenig aussehen wie im Notlazarett. "Wir haben Seelsorger und unsere Psychologin im Einsatz", sagt der ärztliche Geschäftsführer Johann Paula. Auch er weiß, dass es bei Überlebenden von Bombenangriffen zu sogenannten Flashbacks kommen kann: "Schnell wie bei einem Blitzlicht kommen die Erlebnisse wieder hoch."

Mehr Gedanken macht sich der Arzt allerdings um seine Intensivpatienten, die im künstlichen Koma liegen; um die mit den ansteckenden Viren und um die mit frischen Stammzell-Transplantationen, die streng isoliert werden müssen. Paula ist froh, wenn sie am Montag alle wohlbehalten zurück sind. Und wenn in der Zwischenzeit keine Plünderer die leere Klinik heimgesucht haben. Dann wird er auch über diesen einen Mann schmunzeln können, der am Freitag mitten im Trubel unbedingt noch aufgenommen werden wollte, obwohl es bei ihm nur um eine gewöhnliche Knieoperation ging. Er sagte, er wolle die Evakuierung auf jeden Fall miterleben.

© SZ vom 03.12.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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