Süddeutsche Zeitung

Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte:Komapatient soll sterben

  • Dem Franzosen Vincent Lambert darf passive Sterbehilfe geleistet werden. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg entschieden.
  • Lambert liegt seit Jahren im Wachkoma. Seine Ärzte wollen ihn sterben lassen, der französische Verfassungsrat hatte die Entscheidung gebilligt.
  • Lamberts Eltern wollen seinen Tod verhindern. Deshalb sind sie vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gezogen.
  • Der Fall hat in Frankreich für hitzige Debatten zwischen Befürwortern und Gegnern der passiven Sterbehilfe gesorgt.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat entschieden, dass dem Franzosen Vincent Lambert passive Sterbehilfe geleistet werden darf. Der Fall sorgte in Frankreich seit Jahren für hitzige Debatten zwischen Befürwortern und Gegnern der passiven Sterbehilfe.

Lambert hatte bei einem Verkehrsunfall im Jahr 2008 schwere Hirnverletzungen erlitten, er liegt seitdem im Wachkoma. Seit 2011 hat sich sein Zustand deutlich verschlechtert. Aussicht auf Besserung besteht für den 39-Jährigen offenbar nicht. Die für Lambert verantwortlichen Ärzte hatten deshalb entschieden, die künstliche Ernährung zu beenden und ihn sterben zu lassen. Im Juni 2014 billigte der französische Verfassungsrat - das höchste Verwaltungsgerichts des Landes - den Beschluss.

Lamberts Eltern, streng gläubige Katholiken, wollen den Tod ihres Sohnes jedoch verhindern und waren deshalb vor den Straßburger Gerichtshof gezogen. Unterstützt werden sie von einem Bruder und einer Halbschwester des Patienten.

Bei einer Anhörung im Januar betonten sie, ein Aussetzen der Nahrungszufuhr wäre nichts anderes als "versteckte Euthanasie" und damit ein Verstoß gegen das Grundrecht auf Schutz des Lebens. "Vincent ist nicht am Ende seines Lebens, er ist behindert", sagte seine Mutter. Die Eltern machen zudem geltend, dass die Ärzte gegen das Verbot von Misshandlung und Folter verstießen, sollten sie ihren Sohn verhungern und verdursten lassen.

Lamberts Frau, fünf seiner Geschwister und ein Neffe fordern hingegen für den 39-Jährigen das Recht zu sterben. Sie nehmen an dem Verfahren als Nebenpartei teil.

"Er wollte auf keinen Fall in permanentem vegetativen Zustand leben", versicherte der Neffe François Lambert bei der Anhörung in Straßburg. Auch Lamberts Frau erklärt, ihr Mann habe sich nie gewünscht, dass sein Leben künstlich verlängert werde. Eine Patientenverfügung von ihm gibt es allerdings nicht.

Die französische Justiz stützte ihre Entscheidung zugunsten einer passiven Sterbehilfe auch auf Aussagen von Ärzten im Universitätskrankenhaus der ostfranzösischen Stadt Reims, in dem der Patient seit dem Unfall im September 2008 liegt. Demnach sind bei dem Patienten nur noch geringfügige Bewusstseinsanzeichen vorhanden. Außerdem ließ Lambert den Angaben zufolge wiederholt Widerstand gegen eine weitere Pflege erkennen.

Die Eltern wollen nicht aufgeben

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte Frankreich nach Erhalt der Klage im vergangenen Juni per einstweiliger Verfügung angewiesen, den Querschnittsgelähmten bis zum Urteil weiter am Leben zu erhalten. Dem Urteil der Richter der Großen Kammer zufolge ist die passive Sterbehilfe für Lambert kein Verstoß gegen das Recht auf Leben der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Ärzte können mit Zustimmung der Ehefrau Lamberts und mehrerer Geschwister nun die Magensonde des früheren Krankenpflegers entfernen und ihn sterben lassen.

Das Urteil des EGMR ist endgültig, eine Berufung dagegen nicht möglich. Lamberts Eltern hatten trotzdem angekündigt, auch bei einer Niederlage nicht aufgeben zu wollen: In diesem Fall würden sie in Frankreich erneut vor Gericht ziehen, sagte ihr Anwalt.

Der Straßburger Gerichtshof hat sich bereits mehrfach mit dem Thema Sterbehilfe befasst, dabei ging es aber um das Recht auf Hilfe zum Suizid. So prüfte er im Jahr 2002 die Beschwerde einer jungen Britin, die an einer unheilbaren Krankheit litt, die zu einer Lähmung aller Muskeln führte. Sie wollte sich mit Hilfe ihres Mannes umbringen, was das britische Gesetz verbietet. Der Gerichtshof wies diese Klage mit der Begründung ab, ein Staat könne nicht zu aktiver Sterbehilfe verpflichtet werden.

Die passive Sterbehilfe - also der Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen - ist in einigen europäischen Ländern erlaubt. Das gilt etwa für Dänemark, Deutschland und auch Frankreich. Aktive Sterbehilfe - die Tötung auf Verlangen - ist in den meisten europäischen Ländern dagegen verboten.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2507230
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de/AFP/dpa/mcs/pam/rus
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.